Die Spur der Kinder
Fiona vage die Silhouette von Brauns Bruder, der einen Mann auf seinen Schultern hereintrug und wie einen nassen Sack auf den Boden warf.
»Sieh einer an. Noch ein Gast, na, dann kann unsere kleine Party jetzt ja richtig losgehen«, tat sie gelassen, zuckte jedoch unmerklich zusammen, als sie bemerkte, wer der Mann mit dem blutüberströmten Schädel war. Und mit flimmerndem Blick erkannte auch Fiona: Es war Piet Karstens, der in dieser Sekunde zu sich kam. »Was zum Teufel geht hier vor sich?«, ächzte er gequält und sah erschrocken auf. Sah zu André, der mit einem Bein auf seiner Brust stand, bereit, mit seinem Spaten jederzeit erneut zuzuschlagen. Sah zu Fiona, die an die Heizung gekettet war. Sah zu der Erzieherin.
»Da haben wir ja doch noch mal persönlich die Ehre miteinander, Kommissar Karstens«, lachte Pohlgehässig. »Ich war schon enttäuscht, dass Sie mir in all den Jahren nicht wenigstens ein einziges Mal auf die Spur gekommen sind.«
Stöhnend hielt sich Karstens den Hinterkopf. Blut rann seinen Nacken hinab. »Was haben Sie mit den Kindern gemacht?«
Schweigend lächelte Pohl, als Karstens nachschob: »Jetzt können Sie’s doch sagen. Es sei denn …«
»Es sei denn was?«
»Es sei denn, Sie haben Angst, wir könnten aus diesem gottverdammten Keller fliehen.«
Pohl schenkte Karstens und Fiona ein breites Lächeln. »Machen Sie sich keine falschen Hoffnungen – diesen Keller hat noch niemand lebend verlassen.« Sie machte eine kunstvolle Pause. »Aber keine Angst, nach all den Jahren gescheiterter Ermittlungen will ich Sie nicht dumm sterben lassen.«
Sie nahm auf einem Sessel in der Ecke Platz und wandte sich an Karstens.
»Renate Pohl ist lediglich das Geschöpf meiner Phantasie, Herr Kommissar. Mein Name ist Dagmar Braun, und im Übrigen bin ich auch keine Erzieherin, bin ich nie gewesen«, lachte sie, offensichtlich stolz auf sich. »Meine Papiere, die Arbeitszeugnisse, die Referenzen – alles Fälschungen, die, nebenbei bemerkt, anscheinend nicht einmal besonders eingehend überprüft worden sind.« Undmit hochgezogenen Schultern sagte sie: »Aber wer verdächtigt schon eine Erzieherin? Oder eine Tagesmutter? Oder eine Gesangslehrerin?« Ihre Lippen umspielte ein höhnisches Lächeln. »Oder eine Bademeisterin?« Sie nahm ihre Brille ab und warf sie achtlos in die Ecke. »Es war gar nicht so leicht, schließlich musste ich ja immer wieder von der Bildfläche verschwinden, quer durchs Land reisen und dabei den Beruf und die Identität wechseln. Trotzdem war es der sicherste Weg, um ungestört an die Kinder ranzukommen«, erzählte sie, als spreche sie von der normalsten Sache der Welt. »Zu einem Fremden wären die Kinderchen ja niemals in den Wagen gestiegen, nein, das war ihnen oft genug eingetrichtert worden – aber mich, mich kannten sie ja.«
Fiona zwang sich, nicht zu würgen, während Braun bedächtig den Kopf schüttelte. »Da war nicht das geringste Zögern in den kleinen Gesichtern. Sie vertrauten mir, genau wie ihre Eltern – Eltern, die diese Kinder nicht verdient hatten!«, schrie sie plötzlich aufgebracht. Und mit einem Mal war in Brauns Augen nicht mehr der geringste Funken Menschlichkeit. »Glauben Sie mir, ich weiß, wovon ich rede!«
Nach einem kurzen Schweigen wandte sie sich zu Fiona: »Haben Sie eine Ahnung, was es heißt, mitzuerleben, wenn der eigene Vater Mutter und Geschwister halb totschlägt?« Sie stieß ein bitteres Lachenaus. »Ach, was sag ich denn da, von wegen halb totgeschlagen … Er hat sie ja totgeschlagen … einen nach dem anderen … einfach so, weil er wieder einmal sturzbetrunken war.« Sie starrte Fiona direkt in die Augen. »Und wir wären die Nächsten gewesen. Also hab ich meinen kleinen Bruder gepackt und bin mit ihm abgehauen. Einfach weggerannt sind wir. Tagelang durch die gottverdammten Wälder geirrt, bevor wir hier gelandet sind«, murmelte sie, während ihr Blick ziellos durch den Kellerraum wanderte. »Umsorgt wie eine Mutter hab ich den Jungen, dabei war ich selbst noch ein Kind.«
Warum zum Teufel erzählt sie mir das alles? Was hat Sophie damit zu tun?
Fiona tauschte mit Karstens einen Blick aus. Dann fielen ihr die Narben an Brauns Handgelenken auf. Sie sahen aus, als habe Braun ihre halbe Kindheit in Fesseln verbracht. Nachdenklich wandte Fiona ihre Augen ab. Ähnlich wie die junge Mutter in ihrem neuen Roman schien auch Dagmar Braun an einer seltenen Form der Persönlichkeitsstörung zu leiden, der ein
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