Die Spur der Kinder
Keller, vermutete Fiona und hatte keinen Schimmer, wie lange sie schon bewusstlos gewesen und hier unten gelegen hatte. Vor ihr stand der Mann, dem sie aus dem Café gefolgt war. Der Mann, der sich im Moor an ihren Wagen herangepirscht, ihre Fahrertür aufgerissen, sie vom Sitz gezerrt und mit einem Spaten niedergeschlagen hatte, wie ihr die pochende Platzwunde an der linken Schläfe schmerzlich in Erinnerung rief.
Dem Lieferwagen nach musste er es gewesen sein, der ihr kleines Mädchen und all die anderen Kinder entführt hatte. Fiona wollte schreien, doch es war ihr unmöglich, die Lippen zu öffnen, da ein breiter Klebebandstreifen ihren Mund verschloss.
Hieralso hat er Sophie hingebracht.
Sie starrte in eine halb zertrümmerte Kammer. Ein alter Campingtisch. Darauf stand ein Glas. Mit rostigen Rasierklingen.
Oh Gott. War es da auf dem Tisch gewesen? Hat er sie dort etwa umgebracht?
»Noch so ’ne Schnüfflerin, was?«, raunte der Mann plötzlich.
Fiona schaute ihn ängstlich an. Schlagartig begann sie zu zittern.
Der Mann schob seinen Overall bis zur Hüfte herunter, so dass darunter sein schmutziges Unterhemd zum Vorschein kam. Er schwitzte am ganzen Leib.
»Da muss wohl irgendwo ein Nest von deiner Sorte sein«, sagte er und schnitt eine schadenfrohe Grimasse. »Nicht dass das jetzt noch wichtig wäre, aber für den Fall, dass du auch nach diesen kleinen Quälgeistern suchst, bist du bei mir an der falschen Adresse, Schätzchen.«
Sein rechtes Auge zuckte nervös, und von dem einen auf den anderen Moment wich das niederträchtige Lachen des Mannes einer fast unschuldigen Miene.
»Ich hab sie nie angerührt, nie.« Das Zucken am Auge wurde stärker. »Nein, Finger weg, böser Junge, nicht anfassen. Nicht anfassen! Nicht!«, ermahnte er sich selbst, als führe er ein innerliches Zwiegespräch.
ZumTeufel, mit wem redet er da?, dachte Fiona verwundert.
Im nächsten Moment humpelte er auf die andere Seite der Kammer zu, von der aus er ein grelles Licht und eine Videokamera auf Fiona richtete. Sie hielt den Atem an, als sie sah, wie er ein Glas Rasierklingen in seiner Hand ausschüttete und direkt auf sie zukam.
»Na, gefallen die dir?«, sagte er plötzlich wieder mit der Strenge eines erwachsenen Mannes.
Fiona schrak zurück, als er mit einer rostigen Klinge vor ihrer Nase herumfuchtelte.
»Was glaubst du wohl, was ich damit vorhabe?«
Fiona atmete stoßweise durch die Nase und presste ihren Rücken, so fest sie konnte, an die Wand.
»Jaaah, sieh mich nur an! Es geht doch nichts über diese herrliche Angst in den Augen!« Er lachte, und seine Augen leuchteten geradezu fanatisch auf, während er Fiona kaum spürbar mit der Klinge über die Wange strich. »So ein hübsches Gesicht – ich hoffe, du hängst nicht allzu sehr an deinem Spiegelbild.«
Du krankes Schwein!
Fionas Augen schnellten durch die Dunkelheit.
Was hast du mit Sophie gemacht? Und wo ist Luna? Ist sie etwa auch hier unten?
Ihrer Kehle entwich ein stummer Schrei. Innerlich hatte sich Fiona bereits darauf eingestellt, in diesemVerlies zu sterben, als sich plötzlich eine Tür zu einer Treppe öffnete.
»Halt!«, schrie jemand.
Hoffnungsvoll richtete Fiona ihren Blick auf die Umrisse der Gestalt in der Tür, deren Stimme ihr vertraut vorkam.
»Guten Abend, Frau Seeberg.«
Fionas Herz setzte einen Schlag lang aus, als sie plötzlich erkannte, wessen Stimme das war.
Nein! Nein, das kann nicht sein! Das darf nicht sein!
Fiona zog es regelrecht den Boden unter den Füßen weg, als sie sah, wer da aus dem Türschatten trat.
***
Die untergehende Abendsonne verglühte langsam hinter den Baumkronen und verwandelte den Spreewald mehr und mehr in eine schauerliche Kulisse. Ein dichter Nebelschleier dämpfte die Geräusche des Waldes, und nur der Flügelschlag eines vorbeiziehenden Reihers war noch zu hören. Piet Karstens hatte mit seinem Kahn bereits an sämtlichen am Wasser gelegenen Gasthäusern und Bauernhöfen haltgemacht und sich nach Fiona erkundigt. Die Antworten waren jedoch stets die gleichen gewesen.
Der aufkommende Wind kündigte das vorausgesagte Wärmegewitter an. Karstens’ Zuversicht, Fiona noch irgendwo hier draußen zu finden, schwandmit jedem Paddelschlag. Immer wieder warf er einen prüfenden Blick auf sein Handy, in der Hoffnung, dass sich Fiona noch meldete. Und je weiter er den trüben Fluss entlangruderte, desto mehr sah er die Sendebalken auf seinem Display schwinden, bis sein Handy schließlich gar
Weitere Kostenlose Bücher