Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)
seinen Händen ist er abgehauen – nach Serbien.« Anto verhaftete man in Stoc und brachte ihn zum Baron, der ihm seine Freiheit in Aussicht stellte, ihm noch zusätzlich zehntausend Forint geben wollte, wenn er nach L. zurückkehrte und den orthodoxen Glauben annähme. Er sollte eine Herberge und eine Gastwirtschaft aufmachen, und wenn eines Tags Don Musić dort auftauchte, sollte Anto diesen Schergen schnappen und würde dann der Vertreter des Bezirkswesirs werden. Anto ging darauf ein und war nie wieder nüchtern; wie er seine Spionagearbeit überhaupt erfüllen wollte, das wusste kein Mensch.
Wir saßen zwei, drei Stunden an diesem Tisch und mein Vater stellte mir nicht eine einzige praktische Frage, wollte nicht wissen, wovon ich lebte, wie es mir an der Fakultät und im alltäglichen Kampf »ums nackte Überleben« ging und ob ich vom Schreiben eigentlich meine Miete bezahlen konnte. Meine Eltern unterstützten mich nicht, ich war ihnen also nichts schuldig und hatte keine Lust, mir ihre Ratschläge und Predigten anzuhören. Ich hatte auch kein Stipendium vom Staat und konnte meinem Vater ruhig ins Gesicht sagen, dass ich an einer städtischen Beamtenlaufbahn nicht im Mindesten interessiert war. »Und gesellschaftliches Ansehen in einer solchen Welt kann ich nur erreichen, wenn ich diese Welt gegen mich aufbringe«, sagte ich. Die einzig wirkliche Schule, die mir am Herzen lag, war die Schule des Lesens, vor allem das Lesen jener Schriftsteller, von denen ich etwas über mein Handwerk lernen konnte. Mein Vater wurde plötzlich lebendig, schlug mit den Fingern auf die Tischkante und sagte übermütig, dass er, wenn wir jetzt in einem Wirtshaus säßen, sofort ein Getränk bestellen würde. »Aber das hier, das ist nur ein Leichenschauhaus, hier bestellt man überhaupt nichts!« Er lachte aus vollem Halse über die Söhne der Kaffeehausbesitzer, die sich brav zu Ärzten und Juristen mauserten, höhnisch nannte er sie Dörfler in spießbürgerlichen Maßanzügen und streberhafte Musterschüler. Er lobte die Eigensinnigen, jene, die ihre Eltern enttäuschen und ihren eigenen Weg gehen und das Gegenteil von dem tun, was man von ihnen erwartet. Je länger ich ihm zuhörte, desto klarer wurde mir, dass ich ihn überhaupt nicht kannte, alles, was er sagte, war eine Entdeckung für mich, jede Wendung in unserem Gespräch überraschte mich, ich liebte ihn und beneidete den Jungen um jede Sekunde, die er mit ihm verbringen durfte. Es tat mir leid, dass ich ihn nicht öfter besucht hatte. Und als mein Vater jene Schulen als die besten der Welt lobte, in denen man kein Diplom ausgeschrieben bekomme, konnte ich nicht anders als ihn zu umarmen; unsere bisherigen Umarmungen hatte man an einer Hand abzählen können. Ich habe mir oft gewünscht, dass mein Vater mich umarmte und streichelte, doch darauf gründete unsere Vertrautheit nicht, sie setzte sich aus etwas ganz anderem zusammen, vielleicht aus etwas, das man unsichtbare Berührungen nennen könnte. Wenn wir guter Dinge waren, stimmte alles zwischen uns, »das Fluidum floss wie Honig«, das Gefühl war stark und das genügte uns. Ich nehme an, dass uns eine Umarmung gerade deshalb manchmal überflüssig erschien.
Mein Vater und der Junge erzählten mir stolz von ihren gemeinsamen Spaziergängen auf den ordentlichen Waldpfaden, die sie bis zur Quelle und zurück zum Sanatorium gemeinsam machten. In dieser Zeit redeten sie wenig miteinander, es überwog das Schweigen zwischen ihnen. Sie wollten mir eine Freude machen und schlugen vor, dass wir uns zu dritt auf den Weg machten, um vor dem Mittagessen ihren Korridor zu begehen, so nannten sie ihre festgelegte Route, die sie nie änderten. Als der Junge die Tasche mit dem Essen auf ihr gemeinsames Zimmer im zweiten Stock gebracht hatte, kam er außer Atem, wie ein Reiseleiter, zu uns zurück und führte uns gleich auf den Hauptpfad. Es war ein breiter Schotterpfad, der sachte anstieg, schmalere, ordentlichere kleine Wege gingen in die Hauptstraße über, die von Unkraut überwuchert war, zwei große Furchen waren zu sehen, die von einem Karren stammten, offenbar benutzte man ihn, um darin gefälltes Holz oder Blätter und Zweige für die Tiere zu transportieren. Unter unseren Füßen knirschten die Kieselsteine, der Weg war von Löchern durchsetzt, die sich manchmal mit Kiefernnadeln gefüllt hatten. Nur einige Tage vorher war die ganze Gegend von Unwettern heimgesucht worden. Bald waren wir an der Quelle. Das Wasser war
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