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Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)

Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)

Titel: Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirko Kovac
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meinen Vater, dass wir uns endlich wiedersahen, und sagten »lasst es euch gut gehen«. Jede von ihnen streichelte den Jungen und sagte etwas Liebes und Zärtliches zu ihm.

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    Mein Vater kam mir zunehmend wie jemand vor, der nicht von dieser Welt ist. Er kümmerte sich auch wenig um hiesige Dinge. Aber nach einem längeren Schweigen überraschte er mich mit einem unerwarteten Satz und löste eine für unsere Familie typische Wehmut in mir aus: »Weißt du eigentlich, dass wir kein gemeinsames Foto haben?«
    Wir saßen auf der Terrasse an unserem Tisch, im kühlen Schutz des Baumes. Das Gebäude des Sanatoriums warf einen großen Schatten auf die Terrasse, nahm schon einen ansehnlichen Teil des Weges in Beschlag, das gefiel den meisten hier, denn es herrschte nicht nur unter den einfachen Leuten, sondern auch unter dem Personal die Überzeugung, dass die Kühle den Tuberkulose-Kranken besser bekam als die Sonne. Die Sonne ging langsam, aber sicher unter, bald würde der Schatten schon den Terrassenrand erreichen und damit dem Busfahrer das Zeichen für seine Sirene und den Aufbruch geben. In einer Stunde ging es los, ich würde Abschied nehmen müssen, während die anderen einfach nur nach Hause fuhren. Morgen würde ich mit dem Flugzeug nach Zagreb fliegen, mein Weg mich noch einmal über diesen Landstrich führen. Ich konnte auf alles noch einmal einen Blick von oben werfen, dieses ganze traurige Stückchen Land in Augenschein nehmen, nur würde es dann so klein wie eine Machete und so groß wie ein Spielzeug sein. Mein Vater würde hierbleiben, auf der Terrasse oder im Speisesaal, für mein Auge unsichtbar, unsere Trennung, sie würde endgültig sein. Ich betrachtete ihn, wie er am Tisch saß, und dachte jetzt schon an diese Trennung, an den Abschied, der uns noch bevorstand.
    Der Junge kam aus dem Gebäude, er trug eine kleine Kiste, die er wie etwas Kostbares fest an die Brust presste. Er überreichte sie meinem Vater und setzte sich zu uns an den Tisch. Es war eine Kiste aus stabilem Karton, an den Rändern wurde sie von dicken Ledernähten zusammengehalten, hatte einen Plastikgriff und zwei gelbe Metallschlösser. Es war eine schöne Kiste, sicher war sie ursprünglich als Schminkköfferchen oder Ähnliches gedacht. Nur an ein paar Stellen hatte es gelitten. »Das ist mein Tresor, in dem ich nichts Wertvolles mehr habe«, sagte mein Vater. Das Schlüsselchen hatte er an einer Kordel angebracht und sie an einer Gürtelschlaufe festgebunden. Die Schlösser gingen leicht auf, man hätte es mit jedem beliebigen Gegenstand, etwa mit einfachem Draht geschafft, sie zu öffnen. Vater genoss es sichtlich, sein Ritual zu vollziehen, das verlieh ihm eine Bedeutung. »Sollen sie ruhig alle denken, dass es sich um einen riesigen Schatz oder um Orden aus purem Gold handelt, die man mir für heldenhafte Taten in einem Leben verliehen hat, vor dem jeder andere in die Knie gehen würde«, sagte er mit ironischem Unterton.
    In seiner Kiste befanden sich vor allem Fotografien, aber auch anderer Kleinkram, eine Schere zum Beispiel, mit der er interessante Zeitungsartikel ausschnitt, ein Taschenmesser, Bleistifte und Kugelschreiber, ein Radiergummi, ein Zirkel und andere Sachen, die sonst eher in einem Schulmäppchen zu finden sind. Es waren auch ein paar seiner Dokumente darunter, alte, längst abgelaufene Personalausweise, die Handelserlaubnis für den Laden, ärztliche Atteste und seine zerfetzte Krankenakte aus seiner Soldatenzeit, die er mir zum Lesen gab. »Hier kannst du sehen, wie es einem Soldaten geht, der an epileptischen Anfällen leidet«, sagte er, unter Migräne habe er nie gelitten und eigentlich auch nie epileptische Symptome erlebt. »Du bist Thomas Manns Felix Krull, der Schwindler«, sagte ich. Mein Vater lachte und sagte, es habe Zeiten gegeben, in denen man sich auf charmante Weise dem Armeedienst entziehen konnte, auch wenn dann das Familienhaus eines solchen Charmeurs markiert war wie in Zeiten der Pest. Ans Heiraten brauchte man nicht zu denken, wenn man nicht gesund genug war, um in den Krieg zu ziehen. Und für die Leute in unserer Gegend war Krankheit beschämend, »die Armen«, sagte mein Vater, »sie wussten ja nicht, dass Tuberkulose keineswegs eine Krankheit, sondern der erste Pakt mit dem Tod ist«. Mein Vater hat wahrscheinlich nie Kafka gelesen, aber seine Gedanken konnte er trotzdem auf diese Weise aussprechen.
    Unter all diesen Papieren entdeckte ich auch ein Foto von mir, das in der

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