Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)
hören; als wir hinsahen, fuhr ein Krankenwagen schnell heraus und machte sich in Richtung der Straße und der Stadt davon, das Blaulicht schimmerte rotierend in der Ferne, während das Geheul der Sirene immer leiser wurde. Ich blieb im Schatten dicker Kiefernbäume stehen, von hier konnte man auf eine Terrasse im Parterre sehen, auf der ein paar verstreute Tische und Hocker standen, direkt an der Holzveranda, auf den besonders schönen Plätzen, die von Bäumen beschirmt waren, die einen satten Schatten spendeten. Ich versuchte, mich unter den Kiefern zu beruhigen und durchzuatmen, ich hatte Angst und zitterte, das Herz steckte mir im Hals fest, so laut war es, so kroch das Klopfen immer weiter in die Höhe. Meine Glieder schienen eingefroren zu sein, schwer hing das Gewicht meiner Seele an ihnen. So etwas habe ich später nie wieder gefühlt, nie wieder so wie an jenem Tag, als ich mich darauf vorbereite, meinen Vater wiederzusehen. Auf der Fahrt hatte mich die schreckliche Vorstellung geplagt, er könnte ausgerechnet an diesem Morgen gestorben sein, während ich im Bus saß, so etwas, hatte ich gedacht, ist wie geschaffen dafür, ausgerechnet mir zu widerfahren, nur ich konnte auf diese Weise eine solche Begegnung verpassen. Schon in der Kindheit hatte mein Vater immer für den einen oder anderen Schock gesorgt, warum also sollte er nicht auch jetzt, bis zum Schluss, seinen eigenen Gewohnheiten treu bleiben?
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Vor einer Tür aus Bleiglas, an der Schilder mit der Aufschrift Aufnahme, Röntgen, Notdienst angebracht waren, entdeckte ich meinen Vater. An einem anderen Ort hätte ich ihn nicht erkannt, er war schmal und klein geworden. Jetzt war ich mir aber sicher, dass er es war, zwei Einzelheiten räumten auch den letzten Zweifel aus, das war zum einen seine Brille mit den dicken Gläsern und mein kariertes Flanellhemd, das er trug. Dieses Hemd hatte ich in einem Kommissionsladen gekauft. Es war ein Einzelstück. Ich hatte es meinem Vater dagelassen, als ich das letzte Mal meine Mutter besucht hatte. Sie hatte mich dazu überredet. »Mach ihm doch eine Freude, er liebt deine Kleidung, ganz egal wie oft du sie schon getragen hast«, sagte sie.
Vater war im Begriff zu seinem Tisch zu gehen, der im Schatten einer Kiefer stand, hier wartete er immer an den Sonntagen auf meine Mutter. Neben ihm entdeckte ich einen kleinen Jungen, der mir ähnlich sah, er musste um die dreizehn Jahre alt sein und trug ein Buch in der Hand. Wie schön wäre es für mich, wenn ich mich an mich selbst als Dreizehnjährigen an der Hand meines Vaters erinnern könnte! Diese Erinnerung wäre aber nichts weiter als eine ausgemachte Illusion, nicht einmal meine Fantasie ist dazu imstande, ein solches Bild herbeizuzaubern. Die Wirklichkeit lässt eine solche Idylle nicht zu. So etwas ist nur den Träumen und Wundern und der Literatur überlassen. Vater und sein kleiner Schutzengel, mein Doppelgänger, setzten sich an den Tisch und der Kleine fing mit lauter Stimme an, ihm etwas vorzulesen.
Auf der Terrasse ging es bald so lebendig zu wie auf einem kleinen Marktplatz, die Kranken wurden fröhlich, ihr Besuch war endlich da. Die Terrasse schien eine Art Promenade zu sein, ein Ort, an dem man sich zeigte und über den Tag hinweg mit den anderen ins Gespräch kam. Ein kleiner Lastwagen fuhr vor, stapelweise Wäsche und Tageszeitungen hatte er geladen, der Fahrer ließ das Fahrzeug am geschlossenen Tabakkiosk stehen. Danach traf ein gelber Morris Mini ein, aus dem zwei Nonnen ausstiegen, und einen Augenblick später sah ich einen Motorroller des Fotografen Mijo aus N., den die Leute einen Gangster nannten. Er war stadtbekannt, nicht nur als Fotograf, sondern auch als Filmliebhaber, er war ein begnadeter Begräbnisredner, der den Toten nicht schmeicheln wollte, nur weil sie tot waren. Er sah es überhaupt nicht als seine Aufgabe an, die Angehörigen zu trösten, er schimpfte sogar auf die Verstorbenen und hob hervor, dass der Tod ein gerechter Mathematiker sei, der etwas von seinem Handwerk verstehe und genau wisse, wer seiner Gleichung zum Opfer falle und wer nicht. Mijo hatte seinen Spitznamen nicht bekommen, weil man ihn für einen Kriminellen hielt, sondern deshalb, weil er sich genauso wie die Gangster kleidete, die in amerikanischen Filmen zur Zeit der Prohibition spielten. Aber in Wirklichkeit war er ein friedfertiger und freundlicher Mensch.
Als ich meinen am Tisch sitzenden Vater beobachtete, der dem lesenden Jungen aufmerksam
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