Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)
ausgehungert zwischen zwei Steinen. Seine Hände und sein Gesicht waren voller Kratzspuren. Spaten und Hacke hatte er irgendwo unterwegs verloren, halb verdurstet brachte er kaum ein Wort heraus. Er war drei Tage umhergeirrt und hatte es irgendwann aufgegeben, das Grab mit dem Gold zu finden. Er fand weder die kleine Quelle noch das Steinhäuschen mit der Zisterne. In den frühen Morgenstunden hatte er versucht, den Tau von den Gräsern abzulecken und tagsüber die Rinde und die Knospen junger Buchen zu essen. Was für ein Geräusch er auch immer gehört hatte, er vermutete jedes Mal einen Feind oder den Teufel höchstpersönlich dahinter; und hatte ein Ast sich ein bisschen bewegt, war er überzeugt davon, jemand sei gerade von ihm abgesprungen und lauere ihm nun auf.
Großvater Mato brüstete sich damit, seinem Sohn damals etwas über Mut beigebracht zu haben. Er glaubte, von dieser Erfahrung würde er sein Leben lang profitieren. Mein Vater hingegen war der Ansicht, er habe in unserem Hain den letzten Rest an Mut, wenn er ihn denn je gehabt hatte, eindeutig und für immer verloren. Sein Kommentar fiel recht spöttisch aus, seine Courage, sagte er, hätte er im Hain unter einem wilden Birnbaum vergraben, ganz nach dem Muster der Alten Griechen, die auf der Flucht ihr Gold in der Erde deponierten. Gott hätte ihn nicht mit irdischem Mut gesegnet, sondern mit etwas viel Schönerem und leichter zu Ertragendem. Er meinte damit nichts anderes als seine Trinkfestigkeit, aber auch alles andere, das von irdischen Genüssen herrührte. Und so lebte er auch. Er betrank sich und schloss Freundschaften, ergab sich in Gedankenlosigkeit genauso wie in großer Freude, machte es sich zur Aufgabe, jedes Getränk dieser Welt zu probieren, ging auf Reisen, stieg in jedes Gefährt, das vorbeigefahren kam, schlug an unbekannten Orten auf, schlief bei Fremden und wachte bei neuen Freunden und Trinkbrüdern auf. Er nüchterte in zauberhaften Landschaften aus, brachte sich fortwährend in Gefahr, sodass die Leute ihm immer zur Hilfe eilten, ihn retten oder verarzten mussten. Einmal holten sie ihn sogar aus einem Kahn, der die Neretva flussabwärts geschossen war. Er torkelte durch die Gegend, stotterte, erbrach sich, lehnte seinen Kopf an Baumstämme oder an die Wangen seiner Leidensgefährten. Er stolperte im Staub und beweinte schon im Voraus seine zukünftigen Verluste. Er machte Dachsbauten ausfindig, stieg in sie hinab, hing sich an die Hälse von Dirnen und gab ihnen Getränk um Getränk aus. Er irrte in Städten umher und verlor sich in ihnen, fand aber immer einen Weg oder eine Lichtung, irgendeinen Winkel, der sich, wie er es sagte, »im hohen Farnkraut zwischen zwei Steinen befand« und legte sich dort schlafen, atmete durch, kam zu sich, bis es an einem anderen noch wundersameren Ort weiterging wie bisher.
Und oft ritzte er seine Initialen in Baumstämme und auf Steintafeln, manchmal sogar seinen ganzen Namen, versehen mit irgendwelchen Symbolen, deren Bedeutung nur ihm bekannt war. Und wenn er später irgendwann wieder an ihnen vorbeiging und dort seine eigene Handschrift erblickte, blieb er vor ihr stehen und gedachte mit ausgelassener Fröhlichkeit seines nie verwirklichten Lebenswerkes. Als ich ihm einmal sagte, dass doch nur Verrückte ihre Symbole auf diese Weise unterwegs verewigen, erwiderte er: »Das weiß ich selbst. Aber auf meiner Uhr wird nun einmal meine ganz eigene Zeit gemessen. So weiß ich doch immer, wo ich schon gewesen bin. Das ist mein Kommentar zur Vergänglichkeit.«
4
Mein Vater hat eine silberne Tabakdose vererbt bekommen. Der Deckel bestand aus eingesetzten Platinelementen und goldenen Blumen-Applikationen, umrandet von einem schmuckvoll stilisierten Astmuster. In jeder Ecke war ein Blümchen zu sehen und in der Mitte ein in Gold gefasstes, verschnörkeltes Monogramm seines Vaters.
Es war ein schöner Gegenstand, von edlem Material, genauso ungewöhnlich wie nützlich und kostbar für jeden, der ihn besitzen durfte. Es wird der Tradition gemäß immer an den ältesten männlichen Nachfolger vererbt, sobald dieser volljährig ist. Über den genauen Zeitpunkt der Schenkung entscheidet jedoch allein der aktuelle Besitzer. Diese Gepflogenheit ist älter als vier Jahrhunderte. Zuan Kosazza hatte sie im 16. Jahrhundert ins Leben gerufen. Er war der Landesherr dieser Gegend, deren Grenzen sich bis Dubrovnik erstreckten. Im Alter von zwanzig Jahren war er bereits Befehlshaber. Diesem venezianischen
Weitere Kostenlose Bücher