Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)
hätte, dass ich offenbar fähig geworden bin, mich mit vielfältigen Widersprüchen auszusöhnen und sie auch ohne irgendein Bedauern, ja gänzlich ohne Schwermut hinzunehmen. Und auch: dass ich nur über Dinge schreiben kann, an die ich mich sehr genau erinnere, und mich damit eisern an die Regel eines der größten Erzähler unserer Zeit halte. Er ist so berühmt, dass man seinen Namen nicht einmal nennen muss. Einmal hat er geschrieben, unser Leben sei das, woran wir uns erinnern, und nicht das, was wir erlebt haben.
Diese Arbeit hat für mich Ähnlichkeit mit der eines Bildhauers, aber anmerken muss ich an dieser Stelle doch, dass ich mir schreibend den Luxus der einen oder anderen Abschweifung erlaubt habe. Die heutige Zeit hat mich dazu gezwungen. Die Rückkehr zu einem alten Manuskript verlangt vor allem eines: einen neuen Blick. Die heutige Zeit ist zudem derart elend, dass für mich die Rückkehr zur Vergangenheit sogar ein richtiger Genuss ist.
2
Mit dem Verdienst vom Viehhandel machte Großvater in L. einen Gemischtwarenladen und eine Gastwirtschaft auf. Die osmanische Herberge erweiterte er um ein weiteres Stockwerk und kaufte in Trebinje, etwa acht Kilometer von unserem Wohnort entfernt, noch ein anderes Haus. Sein ganzes Vermögen investierte er in Landerwerb. Er kaufte vierzig Morgen fruchtbares Land, die direkt am Fluss Trebišnjica lagen. In Montenegro, auf der anderen Seite der Grenze, erwarb er einen Waldgürtel sowie eine Grasweide von ein paar Hektar. In der ganzen Gegend war er der Einzige, der sich zwei große Bewässerungswagen aus Holz liefern ließ, um mit ihnen sein Wassersystem zu optimieren. Anfangs versammelten sich die Leute regelmäßig um diese Wagen herum und beäugten aufmerksam Großvater und das Ergebnis seiner Arbeit. Die Bewässerungswagen waren etwa fünf Meter lang und mehr als einen Meter breit. Wenn der Wagen losfuhr, drehten sich die an ihm angebrachten Schäufelchen und füllten mehrere Kästen mit Wasser, die sich dann zielgenau und selbsttätig in das bereits ausgehobene Beet ausschütteten. So floss das Wasser schneller und gezielter auf die Felder hinaus.
Großvaters größter Wunsch war damit aber noch nicht erfüllt. Er wollte auch den prächtigen Hain in L. kaufen, in dem nahezu alle Herbstbäume und auch die immergrünen Bäume wuchsen. Dieser Hain war schon zu türkischen Zeiten bepflanzt worden und war gut gepflegt. Einst gehörte er der angesehenen Familie Duraković aus Korijenić, die sich in den Anfängen der österreichisch-ungarischen Monarchie in alle Weltrichtungen verteilte. Viele Menschen aus dieser Familie waren begabt, fleißig und intelligent. Später zogen sie in die unterschiedlichsten Gegenden des weit verzweigten Reiches fort.
Am häufigsten waren Tannen und Fichten im Hain zu finden, und weil er ins fruchtbare Land hineinreichte, sich in Richtung des im Sommer stets ausgetrockneten Flüsschens lieblich ausbreitete, kamen dann auch mehr und mehr Eichen in ihm vor. Aber auch Haselnuss- und Laubbäume gab es. Am Flussufer wuchs Gras und aus dem Lehmboden ragten sowohl die Wurzeln als auch die Äste der Bäume in die Luft. Dieses kleine Flüsschen Sušica bildet bis heute eine Art Grenze zwischen zwei Klimazonen. Auf der einen Seite gibt die Erde fast nichts her. Auf der anderen platzt alles vor Fruchtbarkeit aus den Nähten und es schneit selten. Wegen der nicht allzu strengen Winter gedeihen auch Trauben prächtig, die Rotwein-Rebsorte Vranac hat sich sehr bewährt; trotzdem haben sich hier nur zwei, drei Familien mit Weinanbau beschäftigt.
Meinem Großvater ist es trotz aller Schwierigkeiten gelungen, den Hain zu kaufen. Die Besitzverhältnisse waren aber alles andere als durchsichtig. Ich gab mir selbst das Versprechen, mit der Beschreibung dieses Hains zu beginnen, wenn es mich irgendwann danach drängen sollte, meine Familie zum literarischen Thema zu machen, ihre Geschichte zu erforschen oder auch einfach etwas in einem Buch zu beichten, das mich an sie bindet.
Als Kind habe ich auf diesem Stückchen Erde eine große Angst überwunden. Die schattige Seite des Wäldchens war von Stechdorn, Weißbuchen und Haselstauden überwuchert, was regelrecht dazu einlud, in dieser Hainecke Geschichten über Teufel und Hexen spielen zu lassen. Weißbuchen eigenen sich am besten für Brennholz. Wer auch immer von meiner Familie seinen Fuß in den Hain setzte, um Holz zu sammeln, dem stieß jedes Mal etwas zu. Entweder versetzte ihm plötzlich
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