Die sterblich Verliebten
›Das Schlimmste ist, dass so viele unterschiedliche Individuen in jeder Zeit, jedem Land, jedes auf eigene Faust, eigenes Risiko, so dass sie einander nicht haben anstecken können, durch Kilometer, Jahre und Jahrhunderte getrennt, jeder mit seinen persönlichen, nicht übertragbaren Gedanken und Zielen, übereinstimmend zu denselben Mitteln greifen, zu Diebstahl, Betrug, Mord oder Verrat an Freunden, Kollegen, Geschwistern, Eltern, Kindern, Ehemännern, Ehefrauen oder Geliebten, die sie loswerden wollen. An denen, die sie früher wahrscheinlich am meisten geliebt haben. Die Verbrechen des zivilen Lebens kommen dosiert, verteilen sich, eins hier, eins dort; tröpfchenweise, so dass sie weniger zum Himmel schreien, keine Protestwellen aufwerfen, auch wenn sie nie abreißen: Wie denn auch, da die Gesellschaft seit Menschengedenken mit ihnen lebt, von ihnen geprägt ist.‹ Wozu sollte ich dagegen antreten oder eher dazwischentreten, wie sollte das die Ordnung des Weltalls ins Lot bringen. Wozu sollte ich ein einzelnes melden, von dem ich nicht einmal vollkommene Gewissheit hatte, nichts daran war eindeutig, die Wahrheit ist immer unentwirrbar. Und wenn es ein echtes, vorsätzliches, kaltblütiges Verbrechen gewesen wäre, zu dem einzigen Zweck, einen bereits besetzten Platz zu besetzen, dann sorgte der Täter wenigstens dafür, das Opfer zu trösten, ich meine, das Opfer, das am Leben geblieben war, die Witwe des Unternehmers Miguel Desvern, den sie nun nicht mehr ganz so vermissen würde: nicht beim Aufwachen, nicht beim Hinlegen, nicht beim Träumen, nicht den ganzen Tag dazwischen. Leider oder zum Glück sind die Toten starr wie Gemälde, sie rühren sich nicht, tragen nichts bei, sagen nichts, antworten nie. Und sie tun schlecht daran, zurückzukehren, wenn sie können. Deverne konnte nicht, und es war besser für ihn.
Mein Besuch an ihrem Tisch war kurz, wir wechselten nur wenige Sätze, Luisa schlug vor, mich einen Moment zu ihnen zu setzen, ich entschuldigte mich damit, dass ich an meinem erwartet wurde, nichts falscher als das, außer fürs Bezahlen. Sie stellte mir ihren neuen Mann vor, erinnerte sich nicht mehr, dass wir uns theoretisch schon einmal bei ihr getroffen hatten, für sie war er damals noch nicht aus dem Schatten herausgetreten. Keiner von uns beiden frischte ihr Gedächtnis auf, was lag schon daran, was brachte das. Díaz-Varela war fast gleichzeitig mit ihr aufgestanden, wir gaben uns zwei Küsse, wie es in Spanien üblich ist zwischen Mann und Frau, die sich nicht kennen und einander vorgestellt werden. Seine Schreckensmiene hatte er weggewischt, als er sah, dass ich diskret war und das Spiel mitspielte. Da schaute er mich ebenfalls voll Sympathie an, schweigend, mit seinen schmalen, verschleierten, umfangenden, so unergründlichen Augen. Voll Sympathie schauten sie mich an, doch vermissten sie mich nicht. Ich will nicht leugnen, dass ich versucht war, trotz allem zu verweilen, ihn noch nicht aus dem Blick zu verlieren, dort noch bleich umherzustreifen. Es stand mir nicht zu, war mir nicht erlaubt, je länger ich in ihrer Gesellschaft blieb, desto eher konnte Luisa einen Schimmer entdecken, einen Überrest, ein letztes Glimmen in meinem Blick: Er glitt an den gewohnten Ort, es war unvermeidlich und natürlich unfreiwillig, ich wollte niemandem etwas Böses.
»Wir müssen uns einmal sehen, ruf mich an, ich wohne noch an derselben Adresse«, sagte sie mit echter Herzlichkeit, ohne jeden Argwohn. Einer dieser Sätze, die man sich beim Abschied sagt und nach dem Verabschieden vergisst. Ich würde ihr nicht wieder ins Gedächtnis kommen, war bloß eine junge Besonnene, die sie im Grunde nur vom Sehen kannte, aus einem anderen Leben. Nicht einmal jung war ich mehr.
Ihm kam ich lieber kein zweites Mal zu nahe. Nachdem sie und ich erneut die üblichen Küsse absolviert hatten, machte ich rasch zwei Schritte auf meinen Tisch zu, während ich, den Kopf zu ihr gewandt, noch Antwort gab (»ja, natürlich, ich rufe dich an«), ich wollte zunächst Abstand gewinnen und winkte ihm dann erst zum Abschied. In Luisas Augen war das Winken für beide gemeint, doch ich verabschiedete mich von Javier, jetzt tatsächlich, jetzt endgültig und wahrhaftig, denn er hatte seine Frau an seiner Seite. Während ich in die dümmliche Verlagswelt zurückkehrte, die ich eben verlassen hatte, vor nur ein paar Minuten – die mir auf einmal wie eine Ewigkeit vorkamen –, dachte ich, als müsste ich mich rechtfertigen:
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