Die sterblich Verliebten
oder Michael Jackson?«
Er war gekränkt, warf mir einen schneidenden Blick zu. War ehrlich gekränkt, denn er sagte:
»Du bist vielleicht eine dämliche Kuh. Du glaubst mir nicht? Ich habe mit ihm gearbeitet, und einen schönen Schlamassel hat er mir eingebrockt.«
Jetzt war er ernster als die ganze Zeit über. Er war beleidigt, wütend. Das konnte doch nicht wahr sein, das klang nach Aufschneiderei und Wahnidee; doch es war eindeutig, dass er es sich zu Herzen nahm. Ich versuchte, zurückzurudern.
»Ist ja gut, mein Herr, pardon, ich wollte dir nicht zu nahe treten. Es klingt bloß so unglaublich, oder?, das muss man sich mal vorstellen.« Ich fügte hinzu, um das Thema zu wechseln, aber nicht allzu schroff, damit mein Einlenken ihn nicht glauben ließ, dass ich ihn für einen hoffnungslosen Fall, für einen Spinner hielt: »Hör mal, wie alt bist du denn, wenn du mit keinem Geringeren als dem King zusammengearbeitet hast? Der ist doch seit einer Reihe von Jahren tot, oder? Fünfzig?« Immer noch wollte mir ein Lachen entwischen, ich konnte es zum Glück unterdrücken.
Sofort merkte ich, dass er wieder ein wenig zum Kokettieren zurückfand. Doch zunächst schimpfte er noch mit mir.
»Treib es nicht zu weit. Am 16. August sind es vierunddreißig Jahre, glaube ich. Mehr nicht, scheint mir.« Er wusste es haargenau, war wohl ein regelrechter Fan. »Na, wie viele gibst du mir?«
Ich wollte nett sein und ihn versöhnen. Ohne zu übertreiben, um nicht zu schmeicheln.
»Ich weiß nicht. Fünfundfünfzig?«
Er lächelte zufrieden, als hätte er die Beleidigung bereits vergessen. Lächelte so eifrig, dass seine Oberlippe wieder nach oben schoss und seine weißen, ebenmäßigen, gesunden Zähne samt Zahnfleisch entblößte.
»Leg mindestens noch zehn drauf«, antwortete er befriedigt. »Was sagst du nun?«
Ja, dann hatte er sich tatsächlich gut gehalten. Er hatte etwas Kindisches, deshalb war es so leicht, ihn sympathisch zu finden. Wahrscheinlich war er ebenfalls ein Opfer von Díaz-Varela, den ich in Gedanken allmählich nicht mehr beim Vornamen nannte, den ich so oft gesagt und in sein Ohr geflüstert hatte, sondern beim Nachnamen. Auch das ist kindisch, doch es hilft, wenn man Abstand von denen bekommen will, die man einmal geliebt hat.
Nun begann das lindernde Verhallen tatsächlich, nach diesem ersten Schulterzucken, nachdem ich zum ersten Mal gedacht hatte – oder nicht wirklich gedacht, vielleicht hatte es nicht mit dem Geist, sondern mit dem Gemüt zu tun oder einfach mit der Länge des Atems: ›Was kümmert mich das eigentlich, was geht es mich an.‹ Das ist jedem möglich, jederzeit, bei jedem Erlebnis, so nah und schlimm es auch sein mag, und wer die Erlebnisse nicht abschüttelt, der will im Grunde gar nicht, weil er sich von ihnen nährt und entdeckt, dass sie seinem Leben einen Sinn geben, ganz wie bei dem, der sich mit Freuden die hartnäckige Last der Toten auflädt, die liebend gern herumstreichen, wenn man sie auch nur ein wenig zurückhält, allesamt Anwärter auf einen Chabert, trotz Verdruss, Verleugnung und Heuchelei, mit denen man sie empfängt, wenn sie es wagen, vollends zurückzukehren.
Natürlich ist es ein langwieriger Prozess, natürlich ist er mühsam, man muss Willenskraft aufwenden, sich anstrengen, sich nicht von der Erinnerung verlocken lassen, die bisweilen zurückkehrt, oft als Zuflucht verkleidet, wenn man durch eine bestimmte Straße geht, ein Kölnischwasser riecht, eine Melodie hört oder im Fernsehen ein Film läuft, an dem man gemeinsam seine Freude hatte. Mit Díaz-Varela habe ich nie einen gesehen.
Bezüglich der Literatur, mit der wir sehr wohl gemeinsame Erlebnisse gehabt hatten, bannte ich die Gefahr, indem ich ihr zuvorkam, ihr sogleich die Stirn bot: Obwohl der Verlag eigentlich nur zeitgenössische Autoren veröffentlicht, häufig zum Unglück der Leser und auch zu meinem, überzeugte ich Eugeni, in aller Schnelle eine Ausgabe von
Oberst Chabert
vorzubereiten, in neuer, vorzüglicher Übersetzung (die letzte war in der Tat erbärmlich), und wir fügten noch drei weitere Erzählungen Balzacs hinzu, damit es ein Band mit ordentlichem Rücken wurde, denn es ist ein recht schmales Werk, eine
nouvelle,
wie es die Franzosen nennen. Wenige Monate später lag es in den Buchläden, und ich war seinen Schatten los, indem ich es in meiner Sprache unter besten Bedingungen ans Licht gebracht hatte. Als ich noch daran arbeitete, erinnerte ich mich so viel wie nötig
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