Die Sternseherin
ich weiß, was er durchgemacht hat. Lass ihm ein wenig Zeit, um zu erkennen, wie wertvoll deine Liebe ist. Du liebst ihn doch auch, nicht wahr?«
Estelle sah auf den Boden und hauchte kaum hörbar: »Ja!« Als sie wieder aufsah, war der Vampir verschwunden.
Er liebt dich!, glitten Kierans Worte durch ihre furchtsame Seele. Manon hatte sie nichts davon erzählt, aber sie klammerte sich an diesen Strohhalm.
»Du hörst mir gar nicht zu!«
»Natürlich, ich ...« Estelle schrak zusammen und kehrt in die Gegenwart zurück.
»Du hast von Asher geträumt!« Manons Augen glänzten. »Er ist ein wunderbarer Mann, für einen Dunkelelf jedenfalls«, fügte sie lachend hinzu. »Ich wusste gleich, dass ihr füreinander bestimmt seid!«
»Glaubst du das wirklich?«
»Aber natürlich, Dummchen!« Manon wischte eine Träne aus Estelles Gesicht. »Was ist nur passiert, dass du so verzweifelt bist?« Sie hörte schweigend zu, als ihre Freundin leise erzählte, dass Asher ihr die Erinnerung an ihre Begegnung in der Bibliothek genommen hatte, und wie sehr seine Reaktion nach ihrer Befreiung durch Nuriya sie verletzt hatte. »Ich weiß überhaupt nicht, was in ihn gefahren ist. Als er sah, dass wir in Sicherheit waren, hat er scheußlich geflucht und ist einfach verschwunden!«
»Asher hätte dir nie deine Erinnerung rauben dürfen. Aber jeder macht Fehler und ich bin sicher, dass er diesen längst bereut. Gib ihm eine Chance!« Sie schwieg lange. »Zugegeben, ein Fluch ist nicht das, was man von seinem Geliebten hören möchte. Aber nach einer Schlacht reagieren Männer unterschiedlich. Wie auch immer, wenn du mich fragst, dann klärt sich alles auf. Ihr müsst nur miteinander reden, sobald er zurückkommt.«
Estelle wollte nicht mehr darüber reden und lenkte ab. »Feen können wirklich in ihrem Reich von Ort zu Ort zu reisen so wie Vampire in der Zwischenwelt? Meinst du, ich kann das eines Tages auch?«
Manon stand auf, ohne zu antworten, und ging hinaus. Sie kehrte mit einem Schlüssel zurück, den sie Estelle in die Hand drückte. »Für Ashers Laden, ich seh dort manchmal nach dem Rechten, wenn er länger unterwegs ist.« Sie setzte sich wieder. »Ihr solltet unbedingt miteinander sprechen! Aber vielleicht sieht er es ja auch nicht.«
»Was sieht er nicht? Manon, wenn du mir jetzt auch noch etwas verschweigst, wem soll ich dann überhaupt vertrauen?«
»Also gut, ich sag es dir. Aber du musst mir versprechen, mich bis zum Ende anzuhören.« Weil sie nicht weitersprach, sagte Estelle schließlich: »Ich verspreche alles, was du willst, nur sag endlich, was los ist!«
»Anfangs hat mich deine Wut auf Vampire irritiert und ich war mir nicht sicher, aber deine Visionen und Albträume sind ganz typisch. Du steckst mitten in der Transformation.«
»Transformation in was?« Estelle hielt sich die Hand vor den Mund.
»Du wirst ein Vampir.«
»Das ist unmöglich, mein Vater war ein Sterblicher. Bin ich gebissen worden? Etwa von Asher?«
»Ein Biss macht noch keinen Vampir. Es tut mir leid, aber ich weiß nicht, warum du dich wandelst. Ich kann nur Vermutungen anstellen, immerhin habt ihr beiden wenig Ähnlichkeiten mit eurer älteren Schwester ...«
Es dauerte einen Moment, bis Estelle begriff, was die Fee damit sagen wollte. »Niemals! Mama hat unseren Vater nicht betrogen. Sie haben sich geliebt!« Sie schrie jetzt beinahe.
»Wir Feen nehmen es mit solchen Dingen nicht so genau ...« Manon hätte noch mehr sagen wollen, aber Estelle hielt sich die Ohren zu. »Ich will das nicht hören!«, rief sie und rannte hinaus in den klirrend kalten Morgen. Dick eingepackte Menschen stemmten sich auf ihrem Weg zur Arbeit gegen den Wind. Die Straßenlaternen leuchteten noch, aber der Horizont wurde schon von den ersten Sonnenstrahlen erhellt, bald würden sie den wolkenlosen Himmel über ihnen in dasselbe Blau färben, das Ashers Augen strahlen ließ. Estelle fror in ihrem dünnen Pullover und ihre Zehen schmerzten schon. Pantoffeln eigneten sich weder für einen Winterspaziergang noch waren sie besonders kleidsam. Die Passanten warfen ihr merkwürdige Blicke zu und zwei Schulmädchen kicherten bei ihrem Anblick. Sie war noch nicht bereit, wieder in ihre warme Wohnung zurückzukehren, wo eine Fremde in ihrem Bett schlief und ihre Freundin, oder was sie dafür gehalten hatte, gemeine Lügen über ihre Mutter verbreitete. Wütend ballte sie ihre Faust. Der Schlüssel! Ashers Buchladen war nur noch wenige Schritte entfernt.
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