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Die Sternseherin

Titel: Die Sternseherin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeanine Krock
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ihre Augen senkte und ihr das Porzellan aus den kraftlosen Fingern glitt. Nicht jetzt!, flehte sie lautlos, aber die Visionen richteten sich nicht nach ihren Wünschen, kamen und gingen, wie es ihnen gefiel. Und in letzter Zeit kamen sie immer häufiger. Sie begann zu schwanken und eine Hand erschien von irgendwoher, fasste ihren Ellenbogen in dem Versuch, sie zu stabilisieren. Nichts an Estelle war stabil; nicht ihre schmale Gestalt und noch viel weniger ihre Psyche. Der Mann vor ihr stand auf einmal nicht mehr im Bistro, sondern spazierte am Ufer der Seine entlang. Estelle stand am Wegesrand, doch er nahm sie nicht wahr. Plötzlich trat jemand aus der Dunkelheit. Der Neuankömmling war von kräftiger Statur, Estelle konnte sein Gesicht nicht erkennen, aber sie fühlte die dunkle Essenz seines Seins, als legte sich eine giftige Wolke über ihre Lungen. Sie stieß eine Warnung aus, doch der Spaziergänger schien sie nicht zu hören. Er sah auch den Angreifer nicht, der auf einmal ein Schwert in seiner Hand hielt. Im Schein der Laternen glänzte es gefährlich und was nun folgte, spielte sich in Zeitlupe vor den Augen der heimlichen Beobachterin ab. Die Klinge sauste durch die Luft und trennte dem Passanten mit einem scharfen Schnitt den Kopf von den Schultern. Dabei hörte sie ein knirschendes Geräusch, das Estelle niemals vergessen würde. Entsetzt schlug sie die Hände vors Gesicht.
    »Mademoiselle!« Jemand fasste sie grob an der Schulter und im ersten Augenblick dachte sie, der Mörder wäre nun hinter ihr her. Sie schrie. Es war, als schmelze die hauchfeine Membran zwischen zwei bizarren Welten, und ihre Vision war vorüber. Statt in die Augen eines kaltblütigen Mörders, blickte sie direkt in das wütende Gesicht des Oberkellners. Jean-Marc war damit beschäftigt, ihre zu Klauen gebogenen Finger zu lösen, die sich in den Arm des Gastes krallten. Estelle hätte sich einfach fortführen lassen sollen, aber stattdessen gab sie ihrem Entsetzen einen Namen. »Nehmen Sie nicht den Heimweg durch den Park!« Ihr Griff lockerte sich, aber sie sprach mit eindringlicher Stimme weiter. »Etwas Schreckliches wird passieren!«
    Ehe der Mann antworten konnte, zerrte ihr Chef sie durch das gesamte Restaurant hinter sich her, bis sich eine Tür mit der Aufschrift »Défense d'entrer«, Betreten verboten, hinter ihnen schloss.
    »Ich habe wahrlich genug von deinen Auftritten!«, schnauzte Jean-Marc und stieß sie von sich. Er fummelte in seiner Tasche herum und förderte ein paar Scheine zutage. »Hier, das sollte genügen! Ich will dich nie wieder sehen!«
     
    Am nächsten Abend berichteten Sondersendungen in allen Fernsehprogrammen über den spektakulären Mord. Es war der zweite dieser Art und die Polizei stand vor einem Rätsel. Estelle musste sich das undeutliche Passfoto des Opfers nicht ansehen, um zu wissen, dass dies der Mann aus dem Bistro war. »Mich trifft keine Schuld«, versuchte sie sich zu beruhigen. Hatte sie nicht sogar ihren Job verloren in dem Bemühen, ihn zu warnen? Gerade wollte sie den Fernseher ausschalten, da erschien ihr eigenes Foto auf dem Bildschirm und die Sprecherin verkündete, dass im Zusammenhang mit der Gewalttat nach einer Frau gesucht werde, die eine wichtige Zeugin sei.
    Estelle war entsetzt. Sie ahnte, niemand würde ihr glauben, dass sie den Tod des Mannes zwar in einer Vision vorausgesehen, aber ansonsten nichts damit zu tun hatte. Sie sah schon die Gesichter der Polizisten vor sich. Entweder verhaftete man sie als Mitwisserin oder – noch schlimmer – wies sie als psychisch gestört in eine Anstalt ein. Ohne lange zu überlegen, griff sie zum Hörer und wählte die Nummer des einzigen Menschen, dem sie rückhaltlos vertraute. Doch anstelle ihrer Zwillingsschwester Selena meldete sich eine Männerstimme.
    Der Vampir.
    Ihre Hand schwebte schon über der Telefongabel, dann besann sie sich und sagte ohne Begrüßung: »Wo ist Selena? Hast du sie etwa auch gebissen?« Das letzte Wort war kaum hörbar. Sie schloss kurz die Augen, um sich zu sammeln. Sofort erschienen Bilder von Kreaturen, die in gebückter Haltung über dem leblosen Körper ihrer Schwester lauerten. Das Lachen, das ihre Frage beantwortete, holte Estelle aus ihrem Albtraum und hüllte sie in einen weichen Kokon aus Ruhe und absoluter Entspannung. Sie ließ sich auf ihr Sofa sinken und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Warum hatte sie zu Hause angerufen? Plötzlich griff eine kühle Hand nach dem Telefon und

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