Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Stimmen des Flusses

Die Stimmen des Flusses

Titel: Die Stimmen des Flusses Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
Vom Netzwerk:
was? Ich will, daß du bald wieder gesund wirst, weil ich keine Lust habe, so lange Katzen zu hüten, vor allem, wenn es nicht meine sind. Wie alt bist du?»
    »Siebenundvierzig. Hättest du mit siebenundvierzig schon sterben wollen?«
    »Ich möchte nie sterben, weil ich niemandem zutraue, daß er mir einen anständigen Grabstein macht. Nicht mal meiner Tochter, stell dir vor.«
    »Was für merkwürdige Gedanken.«
    »Alle Geschichten enden mit einem Grab. Wußtest du das?«
    »Nun gut.Was soll auf deinem Grabstein stehen?«
    »Nichts. Ein Stein. Ich hab die vielen eingemeißelten Lebensgeschichten satt. Marmor, wenn’s geht, mit einer Äderung, die quer darüber läuft. Der Stein soll für mich sprechen.«
    »Dichter.«
    »Das bildest du dir nur ein,Tina.«
    »Geht’s dir gut, Elisenda?«
    »Warum?«
    »Du machst ein Gesicht …«
    Senyora Elisenda legte sich das Wintertuch um die Schultern und trat unter das Vordach hinaus, ohne Hilfe und ohne den Stock, den sie nur im Haus benutzte. Sie stellte sich vor, wie Marcel von Helsinki aus, oder wo immer er war, die Angestellten von Tuca anwies, die Anlage wieder zu öffnen. Das ideale Wetter für die Schneekanonen. Sie wandte ihr Gesicht dem Teil des Dorfes zu, wo die Schule gelegen hatte, und dachte an Oriol. Sie versuchte, ihn sich mit einem Maschinengewehr oder einer Bombe in der Hand vorzustellen. Wieder stieg bitter die Erinnerung an den Dachboden in ihr auf, an die Petroleumlampe, das Funkgerät, den Beweis für den ungeheuerlichen Betrug, der sie damals so aus der Fassung gebracht hatte, Oriols ängstlich auf sie gerichtete Pistolenmündung, was für eine tiefe Enttäuschung. Dann bemühte sie sich, wieder an den Oriol zurückzudenken, der mit sanften Fingerspitzen ihre Haltung korrigiert und dann den feinsten Pinsel genommen hatte, um noch etwas an ihren Augen zu verändern, oder den etwas dickeren, und sie dabei mit diesem begehrlichen, zugleich aber respektvollen und verwunderten Blick angesehen hatte, in den sie sich verliebte. Niemals zuvor hatte ein Mann sie so angesehen. Nie zuvor hatte sie so viel Respekt und Interesse für einen Mann empfunden wie für diesen gebildeten, höflichen, sanften Mann, und nie wieder würde sie so empfinden. Ihre Erfahrungen in San Sebastián und Burgos hatten sie gelehrt, die Männer zu verachten.
    Sie packte zwei Nachthemden, eines rosa, eines weiß, ordentlich zusammengefaltet neben das Necessaire. Hausschuhe? Ja, warum nicht? Ein paar Bücher und das Ladegerät für das Handy, wenn sie vom Krankenhaus aus überhaupt anrufen durfte.
    »Erwarte nichts vom Leben, dann ist der Tod nicht ganz so schlimm.«
    »Was weißt du schon, Juri Andrejewitsch.«
    »Ich meditiere viel.«
    Beim Anblick des roten Koffers dachte sie daran, wie sieStrampelanzüge, Windeln und Fläschchen eingepackt hatte, als sie damals in diesem Zimmer ihren Blasensprung hatte und eilig ins Krankenhaus gefahren war, um einen Mönch zur Welt zu bringen. Und selbst wenn das Datum feststeht, wenn du Bescheid weißt und dich vorbereitet hast, kommen die Wehen doch immer unerwartet, so wie der beinahe angekündigte Tod in meiner Brust. Arnau, ich liebe dich. Ich werde dich immer lieben, Oriol, immer, und ich weiß, daß ich mein Bestes gegeben habe, und du hast kein Recht, mich zu verurteilen: Ich habe dich seligsprechen lassen, ich habe gewonnen. Für deine Liebe, Oriol, habe ich erreicht, daß du seliggesprochen wirst, verehrt von jedermann. Morgen ist der große Tag. Wir haben gegen das ganze Dorf gewonnen, Oriol, du und ich und unsere heimliche Liebe.

69
    Valentí Targa riß die Schubladen des Lehrerpults eine nach der anderen auf und ließ sie zu Boden fallen, mitsamt den korrigierten Heften, den Bleistiften, der säuberlich geordneten Farbkreide, den ungeordneten Erinnerungen, dem noch unbenutzten Tafelschwamm; wo hat er seine Sachen aufbewahrt, dieser Mistkerl, der mich hinterrücks erschießen wollte und mir dann in den Arsch gekrochen ist.
    »Auf dem Dachboden ist nichts mehr.«
    »Keine falsche Wand? Kein Loch? Denkt dran, daß Mauri, der Schuft, sich hinter einem verdammten Abstellregal verkrochen hatte.«
    »Es gibt keine Wand und kein Loch, Kamerad.«
    Sie trugen Falangeuniform und durchwühlten alle Winkel der Schule und der Lehrerwohnung, auf der Suche nach Papieren, nach Militärkarten, nach irgend etwas, was das maßlose Vertrauen, das Targa in ihn gesetzt hatte, verraten und ihn kompromittieren könnte.Targa schwitzte vor Panik, jetzt verstehe

Weitere Kostenlose Bücher