Die Straße des Bösen
Horst Hoffmann
DIE STRASSE DES BÖSEN
Ein langgezogener Todesschrei zerriss die Stille, die sich über das Land gesenkt hatte. Jemand weinte.
Für Augenblicke riss das dichte Schneetreiben auf, das kurz nach Einbruch der Nacht und dem plötzlichen Abklingen der klirrenden Kälte eingesetzt hatte. Wankende Gestalten schälten sich schattenhaft aus dem Dunkel. Blutverkrustete Hände streckten sich dem Mann auf dem schwarzen Einhorn entgegen. Krieger verschiedener Stämme kamen näher und starrten den Reiter aus fieberglänzenden Augen an. Einige hatten noch ihre Schwerter in den Händen. Andere stützten sich gegenseitig. Sie waren halb erfroren, ausgemergelt, zerlumpt und krank im Geist, von unsagbaren Schrecken gezeichnet.
»Wasser!« rief einer. »Gib mir Wasser!«
Die Hände streckten sich wie Klauen nach dem Hals des Einhorns aus. Das Tier scheute und tänzelte zurück.
»Reißt ihn herunter!« schrie eine andere Stimme. »Schlachtet das Pferd!«
»Das ist kein Pferd! Seht ihr denn nicht, wer es ist?«
Ein Schatten flog heran. Mythor duckte sich blitzschnell und fing die Lanze im Flug. Er drehte sie, wollte sie zurückschleudern, doch. Vielleicht wäre der Tod das gnädigere Schicksal für diese Unglücklichen gewesen, die die Geisterreiter, die Runengabeln und die Moortoten überlebt hatten.
Wie viele waren gefallen, gestorben nicht im Kampf Mann gegen Mann, sondern durch die finsteren Kräfte der Schwarzen Magie? Wie viele streiften nun irrend umher oder lagen sterbend im Schnee, der kein Schnee war - kein Schnee, wie Mythor ihn jemals zuvor gesehen hatte?
Er war rot, rot wie das Blut der Gefallenen. In dicken Flocken fiel er vom Himmel, zu Kristallen erstarrte Tränen, kristallgewordenes Licht, das von den Mächten der Finsternis besiegt worden war. Die Schlacht war geschlagen, vielleicht das letzte große Aufbäumen der Lichtwelt gegen das Dunkel und die Macht der Dämonen. Und die Finsternis breitete sich aus, unaufhaltsam, trieb diejenigen, die noch frei waren in ihrem Denken, vor sich her, bis...
»Zurück!« schrie Mythor, als sich immer mehr gierige Hände nach ihm ausstreckten. »Kehrt heim in eure Länder und zu euren Stämmen!« Ein leichter Schenkeldruck, und Pandor bäumte sich schnaubend auf. Die Zerlumpten wichen zurück. Einen Söldner, der sich an seinem linken Bein festklammerte, stieß Mythor mit der Hand in den Schnee. »Ihr lebt! Habt ihr vergessen, wofür eure Kameraden fielen?«
»Lasst euch nicht blenden!« schrie eine Stimme. »Er ist einer von denen, die uns ins Verderben schickten! Tötet ihn!«
»Ihr wisst nicht, was ihr sagt!« entgegnete Mythor heftig. »Geht zu euren Frauen und Kindern! Die Schlacht ist verloren, aber der Kampf geht weiter!«
»Lieber wollen wir zu Sklaven werden als noch einmal solches erleben! Du steckst mit ihnen im Bunde! Du hast uns an die Dämonen verkauft!«
Erschüttert trieb Mythor sein Reittier an. Erneut erhob sich der Schneesturm zu voller Heftigkeit, und der eisige Wind trieb dem Sohn des Kometen die roten Flocken ins Gesicht und zerrte an seinem Haar.
Hinter ihm verschwanden die Söldner im Gestöber. Das letzte, was Mythor von ihnen sah, waren Fäuste, die sie wütend in seine Richtung schüttelten. »Verflucht sollst du sein! Niemals sollst du Frieden finden auf dieser Welt und niemals eingehen ins Reich der Heroen!«
Mythors Herz klopfte heftig. Er legte die Hände an Pandors Hals und ließ sich vornübergebeugt vom Einhorn tragen.
Irgendwo schrie ein Mensch in Todesangst. Pandor verfiel in einen leichten Galopp, doch der Schrei schien, vom Sturm getragen, Mythor zu verfolgen.
Er hatte alles getan, um die Schlacht zu verhindern, alles, um Graf Corian und die anderen Heerführer von der Aussichtslosigkeit des Kampfes zu überzeugen. Doch auch das konnte kein Trost für ihn sein, nicht angesichts des Elends, das ihm von allen Seiten entgegenschlug.
Die Sicht reichte kaum zwanzig Fuß weit. Immer wieder tauchten Versprengte vor Mythor auf. Immer wieder wich Pandor am Boden Liegenden aus. Schwerter und Schilde ragten aus dem Schnee. Arme streckten sich Mythor entgegen. Tote lagen aufeinandergeschichtet neben Männern, die keine Kraft mehr hatten zum Weitergehen, der Kälte und dem Wahnsinn hoffnungslos ausgeliefert. Mythor machte nicht halt. Er ritt ohne Orientierung durch die Nacht. Irgendwo nördlich von ihm musste das Hochmoor von Dhuannin liegen, im Osten die Yarl-Straße. Wohin sollte er sich wenden? Er überließ es Pandor, die
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