Die Stunde der Wahrheit
unter dem gleichen Dach wie ihre Familien zu schlafen, egal, wie lange geschäftliche Angelegenheiten sie auch in der Stadt festgehalten haben mochten. Wenn Mara großzügig in ihrer Beurteilung sein wollte, so gestand sie Buntokapi zu, daß er kaum mehr war als ein Junge, gerade einmal zwei Jahre älter als sie, und ohne ihren ausgeglichenen Charakter. Während sie neben ihrem Bruder gesessen und die Lehrstunden ihres Vaters über die Leitung des Hauses mitverfolgt hatte, war Bunto ein unbeachteter, einsamer Junge gewesen, der die meiste Zeit damit verbracht hatte, vor sich hin zu brüten oder sich in der derben Gesellschaft der Soldaten aufzuhalten. Ihre Kühle regte ihn nicht auf, sondern ermutigte ihn, zu seinen früheren Gewohnheiten zurückzukehren, nämlich diejenigen Vergnügungen zu suchen, von denen er etwas verstand. Aber natürlich hatte Mara sich diesen Ehemann nicht ausgesucht, weil sie einen willensstarken und energischen Menschen hatte haben wollen, wie es ihr Vater gewesen war. Jetzt erforderte es ihr Plan, daß sie ihn in seinem maßlosen, übellaunigen Wesen ermutigte, obwohl dieser Weg sehr gefährlich werden konnte.
Ayaki quiekte ein letztes Mal in ohrenbetäubender Lautstärke und grabschte nach ihrer Perlenkette. Mara wehrte sich gegen den Griff an ihrem Hals und tat so, als berühre sie der übermäßige Luxus ihres Mannes nicht. »Wie mein Gemahl wünscht.«
Bunto antwortete mit einem seltenen Lächeln und duckte sich unter einem Schlag von Ayakis winziger Faust. Mara dachte kurz über seine Geliebte nach, diese Teani. Was für eine Frau mochte sie wohl sein, die einen brutalen Kerl wie ihren Mann anbeten konnte? Doch Buntokapis zufriedener Gesichtsausdruck verschwand, als pünktlich auf die Minute Jican mit einem Dutzend Papierrollen in der Hand erschien. »Mylord, den Göttern sei Dank, Ihr seid zufällig wieder zurück. Ich habe einige Papiere bezüglich Eurer entfernten Besitztümer, die Eure sofortige Zustimmung benötigen.«
Bunto gab einen erstickten Schrei von sich, der seinem Gemütszustand entsprach. »Zufällig! Ich muß heute nacht noch zurück in die Stadt.« Er verließ Mara, ohne ihr auch nur Lebwohl zu sagen, doch seine Frau schien das nicht zu stören. Ihre Augen waren auf das rosige Gesicht ihres Sohnes geheftet, der voller Hingabe und Konzentration versuchte, sich die Bernsteinperlen ihrer Kette in den Mund zu stopfen. »Dein Appetit wird dich eines Tages noch umbringen«, warnte sie ihn sanft; doch nur die Götter wußten, ob sie sich auf ihren Mann oder seinen Erben bezog. Nachdem sie ihre Juwelen gerettet hatte, lächelte Mara in sich hinein. Diese Teani webte einen weiteren Faden in das Geflecht aus Ideen, das sie seit dem Tag mit sich herumtrug, als die Grauen Krieger ihren Treueschwur abgelegt hatten. Es war die Zeit gekommen, mit Buntokapis Erziehung zu beginnen und ihm zu zeigen, was wirklich notwendig war, um die Geschäfte der Acoma zu leiten.
Allein im kühlen Schatten des Kinderzimmers nahm Mara das Kontrollbuch an sich, das sie im letzten Monat heimlich begonnen hatte. Niemand würde sie stören; Nacoya war mit Ayaki draußen, und die Sklavin, die die Decken in der Wiege wechselte, konnte nicht lesen. Nachdenklich kaute Mara am hinteren Ende ihres Stiftes. An jedem Tag, den ihr Mann in seiner Stadtwohnung verbrachte, hatte sie mindestens einen Diener oder Jican mit einem unwichtigen Dokument zu ihm geschickt, das er unterzeichnen sollte. Aus ihren vielen Berichten hatte sie geduldig die Tatsache entnommen, daß ihr Mann ein sehr regelmäßiges Leben führte. Wenn er in Sulan-Qu war, pflegte er erst im Laufe des Morgens aufzustehen, niemals jedoch später als nach der dritten Stunde nach Sonnenaufgang. Dann ging er gewöhnlich zu einem öffentlichen Übungsplatz, wo die Wachen und Krieger von Händlern, die sich in der Stadt aufhielten, zusammenkamen und sich an den Waffen übten. Buntokapi zog gewöhnlich Ringen und Bogenschießen dem Fechten vor, doch mit einer Sorgfalt, die Gijan verblüfft hatte, übte er sich jetzt in allen dreien. Seine Technik mit der Klinge verbesserte sich langsam aber sicher, doch noch immer hielt er sich lieber in der Gesellschaft gewöhnlicher Soldaten auf als in der anderer Lords, die gelegentlich selbst von den Übungsmöglichkeiten Gebrauch machten. Am Mittag hatte er dann gebadet und die Kleider gewechselt und befand sich auf dem Weg zu seinem Haus; denn zwei Stunden später war er ansprechbar für jede Arbeit, die Mara ihm
Weitere Kostenlose Bücher