Flucht aus Lager 14
VORWORT
Ein eindrücklicher Augenblick
Seine erste Erinnerung ist die an eine Hinrichtung.
Er ging mit seiner Mutter zu einem Weizenfeld in der Nähe des Flusses Taedong, auf dem die Wärter mehrere tausend Häftlinge zusammengetrieben hatten. Aufgeregt wegen der großen Menschenmenge, krabbelte der kleine Junge durch die Beine der Erwachsenen nach vorn zur ersten Reihe, von wo aus er mit ansah, wie die Wärter einen Mann an einen Pfahl banden.
Shin In Geun war vier Jahre alt, zu jung, um die Rede zu verstehen, die vor der Hinrichtung gehalten wurde. Bei Dutzenden solcher Exekutionen in den folgenden Jahren hörte er die Worte eines kommandierenden Wärters, mit denen dieser den Anwesenden mitteilte, dass der zum Tod verurteilte Häftling die Chance gehabt habe, durch harte Arbeit »erlöst« zu werden, dieses großzügige Angebot der nordkoreanischen Regierung jedoch abgelehnt habe. Um den Häftling daran zu hindern, den Staat, der ihm gleich das Leben rauben würde, zu verfluchen, stopften die Wärter seinen Mund mit Kieselsteinen und zogen ihm eine Kapuze über den Kopf.
Bei dieser ersten Hinrichtung sah Shin drei Wärter, die ihre Gewehre anlegten. Jeder feuerte dreimal. Das Krachen der Schüsse erschreckte den Jungen so heftig, dass er rücklings auf den Boden fiel. Doch kam er gerade noch rechtzeitig wieder auf die Beine, um mit anzusehen, wie die Wärter den blutigen Toten vom Pfahl lösten, in eine Decke hüllten und auf einen Karren legten.
Im Lager 14, einem Arbeitslager für die sogenannten politischen Feinde der nordkoreanischen Regierung, waren Ansammlungen von mehr als zwei Häftlingen verboten, außer bei Hinrichtungen, bei denen alle Häftlinge zugegen sein mussten. Für die Leiter des Arbeitslagers waren die öffentlichen Hinrichtungen ein geeignetes Mittel, um allgemein Furcht einzuflößen.
Shins Wärter im Lager waren seine Lehrer – und seine Züchter. Schließlich hatten sie seine Mutter und seinen Vater zusammengeführt. Sie brachten ihm bei, dass Häftlinge, die gegen die Vorschriften des Lagers verstießen, den Tod verdient hatten. Auf einer Anhöhe in der Nähe seiner Schule hatte man eine große Inschrift angebracht: »Alles nach den Regeln und Vorschriften«. Der kleine Junge lernte die Regeln des Lagers, »die zehn Gebote«, wie er sie später nannte, auswendig und kann sie auch heute noch aufsagen. Die erste lautete: »Jeder, der bei einem Ausbruchsversuch gefasst wird, wird auf der Stelle erschossen.«
Zehn Jahre nach der ersten Hinrichtung stand Shin erneut auf demselben Feld. Auch jetzt hatten die Wärter eine große Menge von Häftlingen hierher getrieben. Auch jetzt wurde wieder ein gespitzter Pfahl in den Boden gerammt. Daneben hatte man einen behelfsmäßigen Galgen errichtet.
Shin wurde diesmal auf dem Rücksitz eines Wagens hergebracht, den ein Wärter steuerte. Shin trug Handschellen und eine Augenbinde aus Lumpen, genau wie sein Vater, der neben ihm saß.
Sie hatten acht Monate in einem innerhalb des Lagers gelegenen unterirdischen Gefängnis hinter sich und waren erst entlassen worden, als sie sich schriftlich verpflichteten, niemals mit anderen darüber zu sprechen, was sie in diesen acht Monaten erlebt hatten.
In diesem Gefängnis im Gefängnis versuchten die Wärter, aus Shin und seinem Vater durch Folter ein Geständnis zu pressen. Sie wollten Näheres über den gescheiterten Fluchtversuch von Shins Mutter und seinem einzigen Bruder wissen. Die Wärter zogen Shin aus, fesselten seine Hand- und Fußgelenke und hängten ihn an einen Haken an der Decke. Anschließend machten sie unter ihm ein Feuer und ließen ihn langsam von der Decke herab. Als seine Haut Blasen warf, fiel er ihn Ohnmacht.
Doch er gestand nichts. Er hatte nichts zu gestehen. Er hatte sich mit seiner Mutter und seinem Bruder nicht zur Flucht verabredet. Er glaubte den Drohungen der Wärter, die ihm seit seiner Geburt im Lager immer wieder eingetrichtert hatten, dass er nicht entfliehen könne und jeden anzeigen müsse, von dem er wisse, dass er eine Flucht plane. Nicht einmal im Traum hatte Shin sich ein Leben außerhalb des Lagers vorstellen können.
Die Wärter hatten ihm nie beigebracht, was jeder nordkoreanische Schuljunge draußen lernt: Die US -Amerikaner sind »Schweine«, die in ihr Heimatland einfallen und die Bevölkerung demütigen wollen. Südkorea ist der »Hund« seines amerikanischen Herrn, Nordkorea dagegen ein großes Land, dessen heldenhafte und brillante Führer den Neid der
Weitere Kostenlose Bücher