Die Tage des Zweifels: Commissario Montalbano träumt von der Liebe (German Edition)
kommen.«
Wutentbrannt lief Montalbano hinaus in den Hof, wo ein Haufen Kränze abgelegt waren und der Leichenwagen schon bereitstand, und zog sein Handy heraus.
»Pronto, Livia? Salvo hier.«
»Ciao, wie geht’s? Ach, entschuldige, ich wollte dich nicht …«
»Was soll das heißen, du weißt nicht, ob du es schaffst …«
»Salvo, hör zu. Wärst du noch am Leben, würde ich alles tun, um weiter mit dir zusammen zu sein. Ich würde dich vielleicht sogar heiraten. Na ja – in meinem Alter und nachdem ich ein Leben lang auf dich gewartet habe, was wäre mir sonst auch übrig geblieben? Aber jetzt, wo sich mir plötzlich diese einmalige Chance bietet, verstehst du doch sicher …«
Er schaltete das Handy aus und ging wieder hinein. Man hatte den Sarg geschlossen, der Trauerzug formierte sich bereits.
»Kommen Sie auch?«, fragte Bonetti-Alderighi.
»Ja, doch«, gab er zurück.
Kaum waren sie auf dem Hof angelangt, stolperte einer der Träger, und der Sarg krachte mit einem solchen Getöse auf den Boden, dass Montalbano aufwachte.
Es war ihm dann nicht gelungen, wieder einzuschlafen, zu viele Fragen zermarterten sein Hirn. Besonders eine ließ ihm keine Ruhe: Was hatte Livia bloß damit gemeint, als sie sagte, sie dürfe sich diese Chance nicht entgehen lassen? Das bedeutete doch wohl, dass sein Tod für sie eine Befreiung darstellte. Die nächste Frage ergab sich von selbst: Wie viel Wahrheit steckt in einem Traum? Im vorliegenden Fall war schon ein winziges Körnchen zu viel.
Denn um ehrlich zu sein: Livia musste von ihm nicht nur die Nase voll haben, sondern auch die Schnauze und den Kanal. Aber warum regte sich sein schlechtes Gewissen einzig und allein im Traum und brachte ihn damit um den Schlaf? Wenn er es genau bedachte, war der Umstand, dass Livia seiner Beerdigung fernbleiben wollte, keine Lappalie, sondern eine Hundsgemeinheit, egal, welche Gründe sie dafür haben mochte.
Als er vor die Tür trat, um ins Kommissariat zu fahren, sah er, dass die Ausläufer der Brandung bis auf einen halben Meter an das Haus heranrollten, so weit wie noch nie. Der Strand war verschwunden, da war nichts als Wasser.
Erst nach einer guten Viertelstunde und hundert deftigen Flüchen entschloss sich der Motor, seine Schuldigkeit zu tun, was Montalbanos Nerven, die wegen des Mistwetters ohnehin schon angegriffen waren, weiter strapazierte.
Nach nicht einmal fünfzig Metern musste er anhalten: ein Stau, so weit das Auge reichte – oder vielmehr, so weit man durch die Windschutzscheibe erkennen konnte, denn die Scheibenwischer konnten gar nicht so schnell arbeiten, wie der Regen herunterprasselte.
Während in Richtung Vigàta alles stand, war in der Gegenrichtung nicht mal ein Moped unterwegs.
Nach zehn Minuten beschloss er, auszuscheren und umzukehren, bis zur Abzweigung nach Montereale zu fahren und einen Weg einzuschlagen, der zwar länger war, ihn aber auf jeden Fall ans Ziel bringen würde.
Aber er steckte fest, die Schnauze seines Wagens klebte an der Stoßstange des Wagens vor ihm, und das Fahrzeug hinter ihm war genauso dicht aufgefahren.
Es half nichts, er musste ausharren. Er war eingeklemmt wie eine Ölsardine in der Büchse. Aber am meisten ärgerte ihn, dass er keinen Schimmer hatte, was da eigentlich los war.
Nach weiteren zwanzig Minuten verlor er endgültig die Geduld. Er riss die Tür auf und stieg aus. Im Nu war er nass bis auf die Unterhose. Er lief bis ganz nach vorn, und jetzt sah er, was geschehen war: Das Meer hatte die Straße weggespült. Komplett. Die beiden Fahrbahnen existierten nicht mehr, an ihrer Stelle klaffte ein riesiges Loch, in dem gelbbraunes Wasser aufschäumte. Das vorderste Auto stand mit der Schnauze am Rand des Kraters. Noch dreißig Zentimeter, und es wäre hineingestürzt. Doch der Commissario erkannte sofort, dass diese Gefahr keineswegs gebannt war, denn die Straße bröckelte, wenn auch extrem langsam, immer weiter ab. Über kurz oder lang würde der Abgrund das Auto verschlingen. Im strömenden Regen konnte er nicht erkennen, wer darin saß.
Er ging näher heran und klopfte ans Fenster. Nach einer Weile wurde die Scheibe einen Spalt heruntergekurbelt. Es war eine junge Frau Anfang dreißig. Sie trug eine Brille mit Gläsern so dick wie Flaschenböden, und der Schreck stand ihr ins Gesicht geschrieben.
Sie war allein im Wagen.
»Sie müssen aussteigen.«
»Warum?«
»Schauen Sie doch, wenn nicht bald Hilfe kommt, wird Ihr Auto in dieses Loch
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