Das Erbe des Blutes - Roman
Mit einem einfältigen Grinsen, das häufig den angeheiterten vom nüchternen Zeitgenossen unterscheidet, trat Bertie aus dem Prince Albert Pub auf die Pembridge Road. Schlagartig blies ihm ein eiskalter Wind entgegen, der ihn sofort ernüchterte. Die Kümmernisse einer langen Arbeitswoche, sein bierschwerer Bauch und die betäubende Wärme des Kaminfeuers drinnen hatten ihn die bittere Kälte vergessen lassen, obgleich ein jeder, der mit aufgesprungenen Lippen hereinkam, vom Wetter sprach. März, murmelten alle. Fühlt sich mehr wie Januar an.
Nachdem der Kneipenmief sich verflüchtigt hatte, blickte er zum sternenklaren, pechschwarzen Himmel empor. Kein Nebel. Der Wind hatte den beständigen Dunst fortgetrieben, der für gewöhnlich wie ein Deckel auf der Stadt lag. Mal was anderes. Schön, sinnierte er, heute würde er den Weg nach Hause erkennen können und sich nicht nur auf sein Bauchgefühl verlassen müssen.
Von rechts dröhnte ihm der Verkehrslärm der Notting Hill Gate in den Ohren. Ein Mann hastete mit gesenktem Kopf an ihm vorbei, die linke Hand am Hut, mit der Rechten hielt er den Kragen fest umklammert. Bertie hatte seinen Mantel noch nicht einmal zugeknöpft, denn die Kälte konnte ihm nichts anhaben. »Mein kleiner Bettwärmer«, nannte Mary ihn gern, wenn sie sich unter den Laken zusammenkuschelten. Da sie so leicht fror, schob sie ihm im Winter manchmal, wenn er ins Bett kam, ihren eiskalten Fuß ganz sanft zwischen die Beine, um etwas Wärme zu erhaschen. Dann fuhr er jedes Mal senkrecht in die Höhe. »Lass das,
Frau!«, schimpfte er, woraufhin sie lachte und er in ihr Lachen einfiel. Er konnte ihr einfach nicht böse sein, genauso wenig wie sie ihm. Das würde sie in einer Viertelstunde beweisen, wenn er kurz vor Mitternacht mit Alkoholfahne ins Bett plumpste.
Beim Gedanken an seine Frau musste er lächeln, während er sich auf der Ladbroke Road durch den Verkehr schlängelte. Der Wind blies von hinten talabwärts. Bertie war froh, diesen gottverlassenen Ort hinter sich gelassen zu haben. Ihr Leben hatte sich seit dem Umzug in die Clarendon Road unglaublich verbessert. Er wohnte mit Mary und den Kleinen zwar immer noch am Rand des Dale, aber es fühlte sich wie ein anderes Leben an. Zum ersten Mal hatte er das Gefühl, frei atmen zu können.
Er überquerte die Straße, passierte das Ladbroke Arms und die Polizeistation, bevor die Straße den Ladbroke Grove kreuzte. Die Gaslaterne erzeugte ein warmes Licht, in dem ein paar Polizisten rauchten. Im Vorübergehen nickte er ihnen kurz zu. Da es auf der Straße ruhig war, überquerte er sie ohne stehen zu bleiben, bog nach rechts ab und ging den Hügel hinauf. Oben angekommen spielte er einen Moment mit dem Gedanken, weiterzugehen und in den Lansdowne Crescent einzubiegen oder über den Kirchplatz und St. John’s Gardens hinunterzugehen. Er entschloss sich zu Letzterem.
Er lief links an der St. John’s Church vorbei, deren kathedralenartiger Turm wie ein knorriger Finger in der Dunkelheit aufragte. Dabei bemerkte er, dass sich rechts etwas bewegte. Wahrscheinlich irgendein Bettler, der Schutz vor dem Wind suchte.
Dann fiel es über ihn her. Heißer, übelriechender Atem streifte seine Wange.
»Was, zum Teufel …«
Noch bevor er den Satz beenden konnte, saß das Messer bereits tief zwischen seinen Rippen. Das Herausziehen klang wie das Schmatzen eines Abschiedskusses.
Die Gestalt verschwand genau so schnell wieder in der Dunkelheit, wie sie aufgetaucht war. Schmerzen empfand Bertie kaum, eher Fassungslosigkeit. Mit den Händen fasste er sich an die Rippen und spürte warmes, klebriges Blut. Er lehnte sich auf dem Boden zurück, als hätte man ihn geschubst; versuchte um Hilfe zu rufen, doch die Stimme versagte ihm. Er hob die Hände auf Augenhöhe: Sie waren voller Blut. O Gott, rette mich, dachte er, während sein Atem zusehends flacher wurde.
»Mary«, flüsterte er und stellte sich vor, wie sie in ihrem Bett darauf warten würde, dass er sich zu ihr legte und sie sich an ihm wärmen konnte.
Er sank nach hinten in das feuchte Gras und gewahrte den Geruch des nasskalten Bodens und die letzten verzweifelten Schläge seines Herzens.
Schließlich spürte er die Kälte doch noch.
1
Ziemlich übermüdet hievte Chief Inspector Grant Foster seine langen, steifen Glieder aus dem nagelneuen Toyota Corolla. Dabei empfand er das übliche Unbehagen, das auftrat, wenn man mitten in der Nacht aus dem Bett geholt wird. Obwohl er bereits seit einem
Weitere Kostenlose Bücher