Die Teerose
Es macht mich … ganz … schwindelig …«
»Nein! Bitte nicht! Ich könnte Sie nicht hochheben, wenn Sie ohnmächtig werden!«
Sie führte ihn zu einer Bank. Er setzte sich und legte den Kopf zwischen die Knie. »Tut mir schrecklich leid.«
»Scht. Bleiben Sie einfach ruhig sitzen, bis Ihnen wieder besser ist. Ich kümmere mich um Ihre Koffer.«
»Sehr freundlich von Ihnen«, murmelte er.
Fiona ging auf den Bahnsteig zurück, um den Schaden zu begutachten. Eine Hutschachtel war weggerollt, die sie von Seamie holen ließ. Ein Koffer war intakt geblieben, die anderen beiden waren aufgesprungen, und die Kleider quollen heraus. Eine große Mappe klaffte auf und gab den Blick auf zwei Gemälde frei. Sie waren leuchtend bunt, wie von Kinderhand gemalt. Es würde einige Mühe kosten, alles wieder einzupacken. Sie seufzte ungeduldig auf, weil sie keine Lust hatte, sich mit der Habe eines Fremden aufzuhalten. Sie wollte aufs Schiff, aber sie konnte den Mann nicht einfach sich selbst überlassen. Er brauchte Hilfe. Also begann sie, seine Sachen aufzusammeln.
»Sind die Bilder unbeschädigt?« fragte er, den Kopf hebend. »Ist ihnen nichts passiert?«
»Sie sind in Ordnung«, antwortete sie. »Nichts beschädigt, soweit ich sehen kann.«
»Gott sei Dank. Sie sind mein Kapital. Ich will sie verkaufen.«
»Was?« fragte sie ärgerlich und versuchte, all die Klamotten wieder in den Koffer zu stopfen.
»Ich werde sie in New York verkaufen.«
»Ach ja?« sagte sie und schloß den Koffer. Sie hatte keine Ahnung, was Mr. Nicholas Soames vorhatte. Er plappert vor sich hin, dachte sie. Mußte wohl nicht ganz bei Sinnen sein. Niemand konnte solche Bilder verkaufen. Sie sahen aus, als hätte Seamie sie gemalt. Sobald sie einen Koffer geschlossen hatte, kroch sie zum nächsten und legte säuberlich seine Kleider wieder hinein. Seamie kam zurück und zog die Hutschachtel hinter sich her.
»Danke, mein Lieber«, sagte Nicholas und machte auf der Bank neben sich Platz für ihn.
Fiona brachte die Koffer zu ihm hinüber. »Geht’s Ihnen wieder besser?« fragte sie in der Hoffnung, endlich fortzukommen.
»Viel besser, danke. Sie waren sehr freundlich. Ich will Sie nicht aufhalten, ich komm jetzt schon zurecht.«
»Aber wie wollen Sie diese Koffer tragen?« fragte sie besorgt.
»Ach, sicher taucht bald ein Gepäckträger auf. Wahrscheinlich haben alle viel zu tun mit den Reisenden, die auf das Schiff nach New York wollen.«
»Sie wissen nicht zufällig, wie man zu dem Schiff kommt, oder?«
»Nicht genau, aber ich will selbst zu den Docks. Zum Dock der White-Star-Linie. Sie auch? Würden Sie sich eine Droschke mit mir teilen?«
»Ja«, antwortete sie schnell, erleichtert, den Weg nicht allein finden zu müssen.
»Also gut. Gehen wir?« Fiona nickte, und gemeinsam machten sie sich auf den Weg den Bahnsteig hinunter. Nicholas schleppte jetzt nur noch drei seiner Koffer, Fiona trug seine Mappe, und Seamie bildete das Schlußlicht mit der Hutschachtel.
In der Kutsche hatten Fiona, Nicholas und Seamie Gelegenheit, sich richtig vorzustellen, und Fiona war in der Lage, ihren seltsamen neuen Gefährten genauer unter die Lupe zu nehmen.
Nicholas Soames war groß und kantig und wirkte sehr jungenhaft. Sie schätzte, daß er nicht viel älter war als sie selbst – höchstens Anfang Zwanzig. Er hatte glattes blondes Haar, das er sich beständig aus der Stirn strich. Seine Züge waren wie gemeißelt, seine Nase vollkommen gerade. Er hatte ein nettes Lächeln, aber seine Augen waren das auffälligste Merkmal an ihm. Sie waren türkisblau und wurden von langen, gebogenen Wimpern umrahmt, um die ihn manche Frau beneidet hätte. Aus der Art, wie er sprach, und aufgrund seiner eleganten Kleider und Lederkoffer schätzte sie, daß er ein Gentleman war. Er erklärte ihnen, daß er nach New York wolle, und Fiona erwiderte, sie ebenfalls.
»Fahren Sie erster Klasse?« fragte er. Sie schüttelte den Kopf und fand, daß Nicholas Soames sehr höflich war. Es war doch sonnenklar, daß sie mit ihren ärmlichen Kleidern und der abgenutzten Stofftasche im Zwischendeck reisten.
»Ich schon. Ich mußte eine schrecklich teure Kabine nehmen. Als ich gebucht habe, gab es keine Einzelkabinen mehr, und ich mußte eine Zweierkabine nehmen.«
Fiona war plötzlich besorgt. Was bedeutete »buchen«? fragte sie sich. Mußte man sich vorher irgendwo melden, um auf ein Schiff zu kommen? Damit hatte sie nicht gerechnet. Sie dachte, es sei genauso wie beim
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