Sternwanderer
KAPITEL 1
In dem wir das Dorf Wall kennenlernen und erfahren,
was dort alle neun Jahre Merkwürdiges passiert
Es war einmal ein junger Mann, der sehnte sich danach, daß sich sein Wunschtraum erfüllte.
Obgleich dies kein ungewöhnlicher Anfang für eine Geschichte ist (denn jede Geschichte über einen jungen Mann, ob in der Vergangenheit oder der Zukunft, könnte auf ähnliche Weise beginnen), war an dem jungen Mann und seinen Erlebnissen doch viel Seltsames, das nicht einmal er selbst jemals in vollem Umfang begriff.
Die Geschichte begann – wie viele andere Geschichten – in Wall.
Der kleine Ort Wall liegt heute wie seit sechshundert Jahren auf einem hohen Granitfelsen mitten in einem kleinen Waldgebiet. Die Häuser von Wall sind alt und robust, aus grauem Stein, mit dunklen Schieferdächern und hohen Schornsteinen. Um auf dem Felsen jeden Zentimeter Platz zu nutzen, kuscheln sie sich eng aneinander, eins dicht an das andere gebaut, mit hier und dort einem Busch oder Baum, der aus einer Gebäudemauer wächst.
Aus Wall heraus führt nur eine Straße, ein verschlungener Pfad, der vom Wald her steil ansteigt, gesäumt von Felsbrocken und Steinen. Folgt man ihm weit genug nach Süden, aus dem Wald heraus, wird aus dem Pfad eine richtige asphaltierte Straße; noch ein Stück weiter verbreitert sie sich abermals, und auf ihr drängen sich zu jeder Tages- und Nachtzeit Autos und Lastwagen, die es eilig haben, von einer Stadt zur anderen zu kommen. Irgendwann schließlich gelangt man auf der Straße nach London, aber dafür ist man von Wall aus eine ganze Nacht lang unterwegs.
Die Einwohner von Wall sind ein wortkarges Völkchen, das sich grob in zwei Typen unterteilen läßt: zum einen leben hier die Ureinwohner, groß und robust wie der Granit, auf dem ihr Städtchen erbaut wurde, und zum anderen die Zugewanderten, die sich im Lauf der Jahre in Wall niedergelassen haben, samt ihren Nachfahren.
Unterhalb von Wall im Westen liegt der Wald; im Süden befindet sich ein trügerisch friedlicher See, gespeist von den Bächen aus den Hügeln im Norden des Dorfes. Auf den Weiden der Hügel grasen Schafe, und im Osten erstreckt sich ebenfalls Wald.
Unmittelbar östlich von Wall erhebt sich eine hohe graue Steinmauer, von der das Dorf seinen Namen hat. Diese Mauer ist sehr alt, aus grob behauenen Granitbrocken aufgeschichtet; sie kommt aus dem Wald und fuhrt wieder in ihn zurück.
In dieser Mauer gibt es nur eine einzige Lücke: eine knapp zwei Meter breite Öffnung, ein Stückchen nördlich vom Dorf.
Durch den Spalt in der Mauer blickt man auf eine große grüne Wiese, hinter der Wiese liegt ein Bach, hinter dem Bach sieht man Bäume. Von Zeit zu Zeit kann man zwischen den Bäumen in der Ferne Gestalten erkennen. Riesige, seltsame Gestalten und kleine, schimmernde Erscheinungen, die aufblitzen und leuchten und dann plötzlich wieder verschwunden sind. Obwohl es hervorragendes Weideland ist, hat noch nie ein Dorfbewohner sein Vieh auf der Wiese jenseits der Mauer grasen lassen. Auch hat niemand sie je als Ackerland benutzt.
Vielmehr werden seit Hunderten, vielleicht sogar Tausenden von Jahren Wachen auf beiden Seiten der Öffnung postiert, und ansonsten geben sich die Dorfbewohner alle Mühe, nicht an den Mauerdurchgang zu denken.
Auch heute noch stehen zwei Männer auf beiden Seiten des Durchgangs, Tag und Nacht, in Achtstundenschichten. Sie tragen gewaltige Holzknüppel und bewachen die dem Dorf zugewandte Seite der Lücke.
Die Hauptaufgabe der Wächter ist es, die Dorfkinder davon abzuhalten, durch die Öffnung auf die Wiese oder womöglich noch weiter hinauszulaufen. Gelegentlich muß auch ein einsamer Wanderer oder einer der seltenen Besucher daran gehindert werden, durch die Maueröffnung zu schlüpfen.
Bei den Kindern reicht es meist aus, mit dem Knüppel zu drohen. Bei Wanderern und Besuchern müssen die Wachen manchmal etwas einfallsreicher vorgehen; körperliche Gewalt wird jedoch nur angewendet, wenn ein Hinweis auf neu eingesätes Gras oder einen gefährlichen Stier nicht fruchtet.
In ganz seltenen Fällen kommt jemand nach Wall, der offensichtlich genau weiß, was es mit dem Mauerdurchgang auf sich hat, und bisweilen werden solche Leute durchgelassen. Sie haben dann diesen gewissen Ausdruck in den Augen, der jeden Irrtum ausschließt.
Im ganzen zwanzigsten Jahrhundert gibt es keinen einzigen den Dorfleuten bekannten Fall von Schmuggel über die Mauer, und darauf ist man im Dorf sehr
Weitere Kostenlose Bücher