Die Teerose
ein paar Sekunden. »Meine Nichte?« fragte er schließlich. »Paddys Mädchen?«
Fiona nickte und deutete auf Seamie. »Das ist mein Bruder Seamus.«
»Meine Nichte«, wiederholte er ungläubig, und ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. »Laß mich dich anschauen! Mein Gott, wenn du nicht ganz das Ebenbild von meinem Bruder bist! Genau wie er! Meine Nichte!« Er taumelte von seinem Barhocker, hielt sie in den Armen und nahm ihr mit seinem Whiskeygestank fast den Atem.
»Kann ich Ihnen was bringen, Miss?« fragte der Barmann, als Michael sie wieder losließ.
»Nein, danke. Ich …«
»Tim!« bellte Michael. »Bring meiner Nichte Fiona einen Drink!«
»Fiona …«
»Hier, setz dich«, drängte er, gab ihr seinen Hocker und zog einen anderen heran. Sie lehnte ab. »Nein, setz dich«, beharrte er und drückte sie auf den Hocker. »Setz dich und sag mir, wie du hierhergekommen bist. Tim! Ein Glas von deinem besten Whiskey!«
»Ein Sodawasser tut’s auch«, erwiderte sie schnell.
»Und für den Kleinen auch was«, fügte er hinzu und winkte Seamie heran. »Komm her, Seamus, Junge, komm, setz dich neben deinen Onkel Michael.« Er holte einen weiteren Hocker, und Seamie kletterte unsicher und mit großen Augen hinauf. »Gib dem Jungen auch einen Whiskey, Tim.« Er versuchte, sich zu setzen, verfehlte den Hocker und landete auf dem Boden. Fiona sprang auf, um ihm aufzuhelfen.
»Was machst du hier? Bist du zu Besuch gekommen?« fragte er und klopfte sich ab.
»Nicht nur zu Besuch«, antwortete sie und half ihm, sich zu setzen. »Wir bleiben für immer in New York. Wir sind ausgewandert.«
»Bloß ihr zwei? Wo ist Paddy? Ist er nicht bei euch? Und Kate?«
Fiona fürchtete sich, ihm die Wahrheit zu sagen. Der Mann hatte seine Frau verloren, und wie es aussah, kam er nicht gut damit zurecht. »Onkel Michael …«, begann sie und hielt inne, um Seamie eines der Sodawasser zu reichen, die der Barmann gebracht hatte, »… unser Vater ist tot. Er ist in den Docks aus einer Luke gestürzt.« Michael antwortete nicht, sondern schluckte nur schwer. »Meine Mutter ist auch tot. Ermordet.«
» Ermordet?« rief er aus. »Wann? Wie?«
Fiona erzählte ihm von Jack the Ripper. Dann berichtete sie ihm von Charlie, dem Baby und wie sie und Seamie dank der Fürsorge von Roddy O’Meara überlebt hatten.
»Ich kann’s nicht glauben. Alle tot«, sagte er wie betäubt. »Mein Bruder … so viele Jahre sind vergangen, aber ich hab immer geglaubt, ich würd ihn wiedersehen.« Mit gequältem Blick sah er Fiona an. »Hat er … leiden müssen?«
Sie dachte an die letzten Momente ihres Vaters, wie er mit gebrochenen Gliedern in dem Krankenhausbett lag. Sie erinnerte sich, wie Burton und Sheehan lachten, als sie über seinen Tod sprachen. Michael mußte nicht erfahren, daß sein Bruder ermordet worden war, damit die Löhne der Arbeiter nicht um ein paar Pennys stiegen. Wenigstens das konnte sie ihm ersparen. »Es war ein schlimmer Unfall. Er hat danach nicht mehr lang gelebt«, sagte sie.
Er nickte und bestellte noch ein Glas Whiskey. Der Wirt stellte es ihm hin, und er goß es hinunter wie Wasser.
»Onkel Michael«, begann Fiona. »Seamie und ich waren gerade bei deinem Haus. Was ist passiert? Mit Molly und dem Baby. Und dem Laden?«
»Noch eine Runde, Timothy. Doppelte.«
Noch ein Glas, obwohl er gerade erst eines geleert hatte. Er war bereits betrunken. Fiona beobachtete, wie er ungeduldig auf die Theke trommelte und auf den Drink wartete. Er lechzte geradezu danach. Der Junge auf der Straße hatte recht gehabt, er war ein Trinker. Das Glas kam. Sie sah zu, wie er es ebenfalls in einem Zug hinunterstürzte. Sein Blick wurde abwesend und fahrig.
»Tante Molly …«, drängte sie.
»Sie ist tot. Cholera.«
»Oh, das tut mir leid.«
»Sie war schwach nach dem Baby. Vielleicht hätt sie’s geschafft, wenn sie kräftiger gewesen wäre.«
»Das Baby ist auf die Welt gekommen?«
»Ja. Zwei Wochen nach dem Ausbruch.«
»Was ist passiert? Ist es … ist es …?«
»Sie lebt.«
»Lebt? Wo ist die Kleine?« fragte Fiona besorgt. »Sie ist doch nicht etwa in der Wohnung?« Den Gedanken an das kleine Baby allein in der dunklen, leeren Wohnung ertrug sie nicht.
»Nein, sie ist bei Mary … einer Freundin …« Er seufzte tief auf, das Sprechen fiel ihm immer schwerer. »… eine Freundin von Molly … hat sie nach der Beerdigung zu sich genommen.« Er hob den Finger, um dem Wirt ein Zeichen zu geben.
Mein Gott,
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