Wo unsere Träume wohnen
1. KAPITEL
Ein einziger Blick reichte, und Rudy Vaccaro verliebte sich auf der Stelle.
Hals über Kopf, bis über beide Ohren und unwiderruflich.
Auch wenn sie nicht perfekt war. Verdammt, sie sah nicht mal besonders gut aus, jedenfalls nicht in diesem Zustand. Und selbst dass sie pflegebedürftig zu sein schien, störte ihn nicht. Kein Zweifel, es hatte ihn schwer erwischt.
Aber vielleicht war es genau das, was ihm an ihr so gefiel. Dass sie ihn brauchte. Dringend sogar. Rudy lächelte zufrieden.
„Oh mein Gott, Dad! Ich kann nicht glauben, dass du mein Leben für das hier ruiniert hast!“, rief seine zwölfjährige Tochter Stacey.
Und auch sein jüngerer Bruder Kevin gab seinen Senf dazu. „Wie genau hast du dir diesen Laden eigentlich angesehen, bevor du ihn gekauft hast?“
Rudy ließ sich die Stimmung nicht verderben, sondern betrachtete die abblätternde Farbe im Eingangsbereich des heruntergekommenen Gasthauses und stieß einen kleinen Freudenschrei aus. Das war sie also, seine neue Heimat.
Zwölf Jahre lang hatte er sich auf diesen Moment gefreut und so viel wie möglich von seinem Polizistengehalt zurückgelegt. Zwölf Jahre lang war aus einer nagenden Unzufriedenheit erst ein vager Traum, dann ein konkretes Ziel geworden – und jetzt, dank eines unvorhersehbaren Zufalls, hatte er es erreicht.
Dieses spezielle Ziel war hundertfünfzig Jahre alt, mit sechs Schlafzimmern, welligen Tapeten, scheußlich braunem Teppichboden und Spinnweben, die dick genug waren, um ein Flugzeug zu fangen.
Rudys Atem wurde in der ungeheizten Luft zu einer weißen Wolke, als er ungeduldig in die Hände klatschte. Das neue Jahr und sein neues Leben waren kaum zwei Tage alt, und er konnte es kaum abwarten, endlich anzufangen.
Meins, alles meins, dachte er und ging über die knarrenden Dielen, um gegen den Thermostat im Durchgang zum Speiseraum zu klopfen. Hmm. Vermutlich kein Öl mehr.
Wenn er Glück hatte. Und das hatte er. Riesiges Glück sogar. Endlich hatte er ein eigenes Zuhause, ein eigenes Leben.
„Wie eklig!“, rief seine Tochter jetzt, den Blick auf einen fleckigen Sessel gerichtet, der irgendwann einmal gelb gewesen war. Oder hellgrün. Stacey war schon sauer genug auf ihren Vater, weil er sie von all ihren Freunden und der großen Familie getrennt hatte. Die Vorstellung, ihre Jugend ausgerechnet hier verbringen zu müssen, brachte ihm nicht gerade Punkte bei ihr ein. „In dem Ding haben wirklich Leute gesessen?“
„Tausende, wie es aussieht“, knurrte Kevin.
Schaudernd wich Stacey zurück.
Rudy riss sich die Strickmütze vom Kopf und strich sich durchs kurze Haar. „Was glaubt ihr denn, warum ich den Gasthof so günstig bekommen habe? Habt ihr eine Ahnung, wie hoch die Preise hier oben normalerweise sind?“
Kev verschränkte die Arme und starrte mit finsterer Miene auf eine dunkle Spur, die sich von der Decke bis zum Boden zog, zwischen den Unmengen von startenden, landenden oder paddelnden blassgrünen Wildenten auf der Tapete hindurch. „Das sieht nach einem Leck aus. Wenn du Glück hast, ist es nur ein undichter Heizkörper …“
„Ich muss ins Bad“, sagte Stacey und stopfte die Hände in die Taschen ihrer Daunenweste. Ihre kaffeebraunen Augen blitzten. Das zahle ich dir heim, lautete die Botschaft darin. Rudy lächelte aufmunternd. Das hier wird gut. Für uns beide.
„Es gibt sechs. Vier oben, zwei hier unten. Du hast freie Auswahl.“
Ihre Augen wurden groß. Mit zwölf war sie noch zu beeindrucken, aber in einem Jahr würde er wahrscheinlich zu härteren Mitteln greifen müssen. „Sechs?“
„Ja.“ Rudy grinste. Hoffentlich waren die Leitungen in Ordnung … Aber darüber konnte er sich morgen den Kopf zerbrechen. Jetzt zeigte er den Flur entlang. „Das nächste ist gleich dort.“
Kevin runzelte die Stirn.
„Die Maklerin hat mir einen Grundriss geschickt“, erklärte Rudy.
„Einen Grundriss.“
„Genau.“
„Was bedeutet, dass du all deine Ersparnisse in ein Haus gesteckt hast, das du heute zum ersten Mal siehst.“
Rudy klopfte seinem Bruder auf die Schulter. „Sie hat mit ihrem Handy Dutzende Fotos gemacht und mir die geschickt.“
„Na dann.“
„Ich musste mich schnell entscheiden. Der Preis war gerade gesunken – und es gab noch zwei andere Interessenten. Sieh mich nicht so an, Kev. Das Dach wird nicht einstürzen, und – wahrscheinlich – gibt es keine Termiten. Sicher, es ist heruntergekommen, aber …“
Kevin lachte. „Dass ausgerechnet du dein
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