Die Teerose
in der Welt sollte er hierher zurückkommen wollen, in dieses schäbige Viertel, wenn er bei ihnen sein konnte? Warum sollte er bei ihr sein und ihre Sorgen und Ängste anhören, wenn er Millies Lachen lauschen konnte? Mit Mädchen wie ihr konnte sie nicht konkurrieren. Sie sah wie eine Bettlerin aus in ihren abgetragenen Kleidern. Dazu ihr alter Schal, ihre rauhen Hände – wahrscheinlich stellte er hundert nachteilige Vergleiche an, dachte sie und wand sich innerlich. Sie konnte ihm noch nicht mal sechs Pence für ihre gemeinsame Spardose geben. Jetzt sah sie es deutlich: Er führte ein aufregendes neues Leben mit interessanten Leuten und neuen Erfahrungen. Er bewegte sich weg von ihr und wollte nicht belastet werden. Sie war ein Klotz am Bein. Das hatte er zwar nicht gesagt, aber das war auch nicht nötig. Doch sie war zu stolz, um jemandem zur Last zu fallen. Sie blinzelte ein paarmal und stand dann auf.
»Wo gehst du hin?«
»Heim.«
»Du bist immer noch sauer auf mich.«
»Nein, das stimmt nicht«, antwortete sie ruhig, um nicht erneut die Fassung zu verlieren und laut zu werden. Millie kreischte vermutlich nie. »Du hast recht, du solltest zu Peterson’s gehen. Es ist bloß … ich hab genug vom Fluß und will zurück.«
Er stand mit ihr auf.
»Ich geh allein, danke.«
»Sei nicht albern, es ist ein langer Weg. Wenn du unbedingt heim willst, begleite ich dich.«
Fiona drehte sich zu ihm um. »Ich hab nein gesagt! Laß mich allein! Geh in dein verdammtes Covent Garden zurück! Ich will mir nicht anhören, daß meine Hände rauh sind, daß ich geduldig sein soll und daß du den Guy-Fawkes-Tag mit Millie Peterson verbringst!«
»Ich verbring’ ihn nicht mit Millie! Ich geh bloß zu einer Party! Was hast du denn bloß? Ich kann’s dir nicht recht machen, egal, was ich tu!« stieß Joe wütend hervor. »Du sagst, du möchtest mich mehr um dich haben, aber jetzt bin ich da, und du willst heim. Warum bist du bloß so verdammt launisch?«
»Völlig grundlos, Joe. Ich hab meinen Pa verloren, mein Zuhause, und jetzt verlier ich auch noch meinen Liebsten. Alles ist einfach ganz prima!«
»Fiona, das tut mir leid, wirklich. Aber du verlierst mich nicht, ich versuch doch, alles besser zu machen. Was zum Teufel willst du denn von mir?«
»Ich will meinen Joe zurück«, sagte sie. Dann lief sie die Treppe hinauf und verschwand aus seinem Blickfeld. Sie ging über die High Street, an Docks und Lagerhäusern vorbei in Richtung Gravel Lane und Whitechapel. Sie verstand die Welt nicht mehr. Nichts paßte zusammen. Joe sagte, er arbeite hart für sie beide, für ihren Laden. Das sollte sie trösten, aber das tat es nicht.
Wenn er wirklich für ihren Laden arbeitete, warum war er dann so sehr auf die Beförderung aus? Hatte er nicht gesagt, sie hätten achtzehn Pfund und sechs Pence? Das waren doch schon fast die fünfundzwanzig, die sie brauchten. Er brauchte die Einkäuferstelle nicht, sondern nur noch die Lohneinkünfte von ein paar weiteren Monaten. Dann konnte er kündigen, und sie konnten ihren Laden aufmachen. Warum war er so hinter der Stelle her?
Nach einer halben Meile die Gravel Lane hinauf begann sie schneller zu laufen. Atemlos und schwach auf den Beinen versuchte sie, der Stimme in ihrem Kopf zu entfliehen: Weil er den Laden nicht mehr will. Und weil er dich nicht mehr will.
Vor Dutzenden streng abschätzender Blicke zog Charlie Finnegan sein Hemd aus und warf es über einen Stuhl. Er drückte die Ellbogen nach hinten, um seine Schultern zu lockern und die Brust zu dehnen. Die Blicke strichen über seine straffen Muskeln und registrierten seine kräftigen Arme und die starken Hände. Ein anerkennendes Murmeln ging durch die Menge. Die Wetten schnellten hoch, Einsätze wurde geändert, Münzen wanderten von Hand zu Hand.
Gelassen blickte sich Charlie im Raum um. Ihm gefiel, was er sah. Es war sein erster Kampf im Taj Mahal – einem alten Musiksaal, der erst vor kurzem in eine Sporthalle umgewandelt worden war. Der Besitzer, Denny Quinn, hatte das Gebäude ausgeweidet, die Bühne und die Sitze herausgerissen, aber die schönen Gaskandelaber, die Wandleuchten und die Blumentapete an ihrem Ort belassen. Das Ergebnis war ein großer, gut beleuchteter Raum, der sich ausgezeichnet für Hunde-, Hahnen- und Boxkämpfe eignete.
Ihm gefiel auch das Publikum – hauptsächlich Arbeiter, aber auch ein paar feine Pinkel. Mitten unter ihnen entdeckte er Thomas »Bowler« Sheehan. Bowler, der seinen
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