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Die Teerose

Die Teerose

Titel: Die Teerose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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Er hatte kein Geld bei sich, und sein Schädel war eingeschlagen. Roddy vermutete, daß Charlie durch eine gefährliche Straße gegangen und das Opfer von Dieben geworden war – totgeschlagen, ausgeraubt und in den Fluß gestoßen. Fiona war dankbar, daß sie seine Uhr übersehen hatten, dankbar, daß sie ein Erinnerungsstück an ihren Bruder hatte.
    Bis zu dem Tag, an dem Charlies Leiche gefunden wurde, hatte sich Fiona an die Hoffnung geklammert, daß er noch lebte. Ihre Trauer um ihn war grenzenlos. Sie vermißte seine großspurige Art, sein Grinsen und seine albernen Scherze. Sie vermißte seine Kraft und betete zu Gott, er wäre hier, um ihr eine Stütze zu sein. Jetzt gab es nur noch Seamie und sie. Die kleine Eileen hatte ihre Mutter nur um fünf Tage überlebt.
    Fiona war sich sicher, daß auch Seamie und sie es nicht geschafft hätten, wäre da nicht Onkel Roddy gewesen. Er hatte sie nach dem Mord bei sich aufgenommen, die Behörden angelogen und behauptet, ein Blutsverwandter zu sein – der Cousin ihrer Mutter –, so daß sie unter seine Obhut gestellt wurden. Fiona war nicht in der Lage gewesen, sich um Seamie und Eileen zu kümmern, und er befürchtete, die Behörden würden sie alle in ein Arbeitshaus stecken.
    Er hatte ihnen ein Heim gegeben, sorgte für sie und tat sein Bestes, um ihre Not zu lindern. An Tagen, wenn Fiona selbst das Aufstehen schwerfiel, nahm er ihre Hand und sagte: »Immer einen Schritt nach dem anderen, Mädchen, nur so geht’s.« Und so war ihr Dasein nun: Wie betäubt schleppte sie sich herum, ohne sagen zu können, ob sie leben oder sterben wollte.
    Fast während ihrer ganzen siebzehn Lebensjahre war Fiona ein fröhlicher Mensch gewesen. Trotz all der Mühen hatte es immer etwas gegeben, worauf sie sich freuen konnte – die Abende am Feuer mit ihrer Familie, die Spaziergänge mit Joe, die gemeinsame Zukunft. Aber jetzt war die Liebe ihres Lebens und mit ihr die Hoffnung, die sie auf ihre Zukunft gesetzt hatte, verschwunden. Jetzt lebte sie in einer Art Unterwelt, nahe der Hölle – unfähig, ihr Leben aufzugeben, weil ihr kleiner Bruder auf sie angewiesen war, aber nicht in der Lage, es in die Hand zu nehmen, weil die entsetzlichen Verluste sie niederdrückten.
    Ein eisiger Wind fegte über den Friedhof und schüttelte die kahlen Bäume. Der Herbst hatte dem Winter Platz gemacht. Weihnachten und Neujahr waren gekommen und vergangen, doch sie hatte nichts davon wahrgenommen. Es war bereits Mitte Januar 1889. Die Zeitungen waren voll von einer neuen Geschichte – Jack the Ripper sei tot, hieß es. Er habe Selbstmord begangen. Ende Dezember sei ein Leichnam aus dem Fluß gefischt worden, bei dem es sich um Montague Druitt, einen jungen Londoner Anwalt, handle. Druitt stamme aus einer Familie mit geistigen Störungen, und Leute, die ihn näher kannten, behaupteten, Zeichen des Wahnsinns an ihm bemerkt zu haben. Er habe eine Nachricht hinterlassen, die besage, es sei besser für ihn zu sterben. Seine Vermieterin habe ausgesagt, er führe einen seltsamen Lebenswandel, sei nachts öfter nicht zu Hause gewesen und erst in den frühen Morgenstunden heimgekommen. Die Presse spekulierte, daß sich Druitt, nach den Morden in Adams Court von Schrecken und Reue geplagt, ertränkt habe.
    Sein Tod schenkte Fiona keinerlei Genugtuung. Sie wünschte nur, er hätte sich das Leben genommen, bevor er ihre Mutter ermordet hatte.
    Der Winterwind brachte Schnee mit sich. Sie stand auf. Es war frostig geworden. Aufgrund einer Tauperiode war es möglich gewesen, ihren Bruder zu beerdigen. Er war so voller Mutwillen und Schalk gewesen und lag nun in harter Erde begraben – wenn sie daran dachte, stiegen ihr wieder Tränen in die Augen. Verzweifelt versuchte sie zum hundertstenmal am Tag nach einem Grund zu suchen, warum ihr die Familie, Joe und alles, was sie besessen hatte, entrissen worden war. Aber sie fand keinen. Sie verließ den Friedhof und ging zu Roddys Wohnung zurück – eine traurige blasse Gestalt, die sich gegen den kalten Winterhimmel abzeichnete.

   20   
    I n den ersten Monaten des Jahres 1889 schoß Seamus Finnegan unglaublich in die Höhe, er wurde lang und schlaksig und verlor seinen Babyspeck. Im Dezember wurde er fünf und wuchs schnell aus den Kinderschuhen heraus. Er besaß die erstaunliche Widerstandskraft früher Jugend, die ihm gemeinsam mit Fionas liebevoller Fürsorge half, den Verlust seiner Mutter, seines geliebten Bruders und seiner kleinen Schwester zu

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