Die Templerin
KAPITEL 1
Robins Welt war klein. Ausgehend von dem Dorf, in dem sie geboren und aufgewachsen war, maß sie weniger als einen Tagesmarsch in jede Richtung und im Norden sogar noch sehr viel weniger, denn dort hörte die Welt gewissermaßen auf. Wenn man zwei Stunden in scharfem Tempo in diese Richtung marschierte, erreichte man die Dünen, niedrig, unregelmäßig und von kärglichen Flecken borstigen Grüns bewachsen, und wenn man sie überquerte und sich dem Wind stellte, der selbst im Sommer manchmal eisig war, dann sah man das Meer: eine unendliche, manchmal blaue, zumeist aber schmutziggraue Ödnis, die nirgendwo anfing und nirgendwo endete.
Im Westen führte der Weg schon weiter. Brach man um die Osterzeit bei Sonnenaufgang auf, so erreichte man am späten Nachmittag den Fluß. Er war nicht sehr breit, aber tief und reißend. Die Bewohner des Dorfes auf der anderen Uferseite lagen mit denen aus Robins Dorf im Streit, was in gewisser Weise ungemein praktisch war: So kam niemand in Versuchung, den Fluß zu überqueren und dabei das Risiko einzugehen, in null Komma nichts zu ertrinken. Im Süden und Osten schließlich erhoben sich dicht bewaldete Hügel, durch die nur eine einzige, schmale und meist verschlammte Straße führte. Gerüchten zufolge wurden sie mitunter von Wegelagerern und wilden Tieren heimgesucht, aber Robin vermutete, daß diese Greuelmärchen maßlos übertrieben waren. Überprüfen konnte sie das allerdings nicht: Niemand aus ihrem Dorf hatte diese Straße je benutzt; jedenfalls nicht, solange sie sich zurückerinnern konnte.
Robin verdankte ihren etwas ungewöhnlichen Namen ihrem Vater. Er war Engländer - vielleicht auch Schotte, so genau hatte sie diesen Unterschied nie begriffen - und hatte nur einen einzigen Winter in ihrem Dorf verbracht. Zusammen mit einer Handvoll Kameraden war er eines Morgens vor fünfzehn Jahren plötzlich aus dem Wald getorkelt. Dem halben Dutzend zerlumpter, blutüberströmter, aber auch schwerbewaffneter Gestalten erging es ganz offensichtlich nicht viel besser als ein paar Hasen bei einer Treibjagd: Sie waren vollkommen am Ende ihrer Kräfte und sahen so gehetzt aus, als ob sie schon das Hufgetrappel der Verfolgermeute hören würden.
Nachdem sich die erste Aufregung gelegt und die Dorfbewohner begriffen hatten, daß ihnen von den fremden Soldaten zumindest keine unmittelbare Gefahr drohte, hatten es sich die Fremden unter der großen Linde auf dem Dorfplatz einigermaßen gemütlich gemacht, ihre Wunden versorgt, etwas getrunken und gegessen und währenddessen begonnen, ihre Geschichte zu erzählen. Sie gehörten zu einem Heer, das sich auf dem Weg ins Heilige Land befand und nicht weit vom Dorf entfernt vorbeigezogen war. Während eines plötzlichen Schneesturms - so erzählten sie wenigstens - waren sie vom Haupttroß getrennt worden, und kaum hatte sich das Wetter gebessert, da waren sie in einen Hinterhalt geraten, dem sie nur mit knapper Mühe entkommen konnten. Nun war ihr Heer fort, und sie hatten keine andere Wahl, als auf das Frühjahr zu warten, um sich dann auf eigene Faust auf den Weg ins Land des Heilands zu machen.
Das war jedenfalls die Geschichte gewesen, die sie erzählten. Niemand im Dorf hatte sie wirklich geglaubt. Wahrscheinlicher war wohl, daß es das Heer, von dem sie gesprochen hatten, zwar gab, sie selbst aber nichts anderes als Deserteure waren. Aber welcher der einfachen Bauern und Fischer hätte schon den Mut gehabt, das einem halben Dutzend schwerbewaffneter Soldaten ins Gesicht zu sagen?
Dabei hätten sie es vermutlich ohne große Gefahr gekonnt. Die Leute im Dorf sprachen selten über den Winter, in dem die englischen Soldaten dagewesen waren. Aber wenn sie es taten, dann war in ihren Stimmen keine Bitterkeit oder gar Zorn, sondern vielmehr ein Ton, als spräche man über liebe alte Freunde, die man gerne einmal wiedersehen würde. Robin hatte nicht erfahren, was sich in jenem Winter vor fünfzehn Jahren wirklich zugetragen hatte, aber als die Schneeschmelze einsetzte und die Soldaten wieder abzogen, waren sie und viele Dorfbewohner Freunde gewesen.
Vier Monate später war Robin geboren worden.
Niemand im Dorf hatte Robins Mutter diesen Fehltritt wirklich übelgenommen. Sie war damals schon seit zehn Jahren Witwe und führte ein einfaches, aber gottesfürchtiges Leben, und Robin vermutete, daß der englische Soldat - ihre Mutter nannte niemals seinen Namen, wenn sie über ihn sprach, so nannte sie ihn stets nur den Soldaten -,
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