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Die Tochter der Ketzerin

Die Tochter der Ketzerin

Titel: Die Tochter der Ketzerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathleen Kent
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tagsüber blühenden Blutwurz, wegen ihrer Schönheit und Heilkräfte eine der Lieblingspflanzen meiner Mutter, würden fest geschlossen sein, als fürchteten sie ihre Geheimnisse. Der November war windig, feucht und trüb. Da die Tage zu warm gewesen waren, um das Laub der Bäume strahlend bunt zu färben, versank die Welt im düsteren Grau. Das Wetter wurde kühl genug, dass Vater eine große Räuchergrube ausheben konnte, um das von ihm erlegte Wild haltbar zu machen. Außerdem schaufelten wir einen langen Graben, in dem wir die letzten Herbstäpfel und Waldbeeren kühl lagern wollten. Dazu kleideten wir den Graben mit Stroh aus, darauf kam eine Schicht Äpfel, dann wieder Stroh, und schließlich wurde das Ganze mit Erdreich abgedeckt. Andrew hatte die Aufgabe, die fragliche Stelle zu kennzeichnen, damit wir die Früchte auch im Schnee wiederfanden. Sorgfältig steckte er etwa ein Dutzend Kreuze in den Boden, bis Mutter ihm befahl, diese durch einfache Stöckchen zu ersetzen, da sie der Erdhaufen an ein Massengrab nach einer blutigen Schlacht erinnerte. Daraufhin brach Andrew in Tränen aus und jammerte, weil er wirklich glaubte, dass dort nicht Äpfel, sondern eine Leiche vergraben war. In der festen Überzeugung, dass ein Familienmitglied hatte sterben müssen, zählte er uns immer wieder, bis wir ihm taktvoll vorschlugen, auch sich selbst mit einzurechnen. Zum Glück kam er so schließlich zu dem tröstlichen Ergebnis, dass wir alle sieben gesund und munter waren. Das ein Jahr alte Schwein, das Mutter eingetauscht hatte, war fett geworden und wurde geschlachtet, ohne sich groß dagegen zu sträuben. Anfangs tat es mir leid, das mit ansehen zu müssen, denn es war ein zahmes und recht gelehriges Tier gewesen, das angelaufen kam, wenn man es zur Fütterung rief. Allerdings musste ich mir eingestehen, dass mir das Wasser im Munde zusammenlief, wenn ich an ein Stück saftige Schweinshaxe dachte.
    Um das Ende der herbstlichen Feldarbeit und den Anfang eines Winters zu feiern, den wir hoffentlich ohne Not verbringen würden, hatten wir Robert Russell zum Essen eingeladen. Nach alter Sitte hatten er und Vater sich gegenseitig beim Pflügen und Ernten geholfen. Robert wollte auch seine Nichte Elizabeth Sessions mitbringen. Bei dieser Gelegenheit erhielt ich tiefere Einblicke in Richards Gefühlsleben, denn am Nachmittag kehrte er, von Kopf bis Fuß tropfnass wie ein Hund, über den man einen Eimer Wasser ausgeschüttet hat, zum Haus zurück. Als ich ihn fragte, ob er in den Shawshin gefallen sei, befahl er mir mit finsterer Miene zu verschwinden. Tom raunte mir zu, Richard habe allen Ernstes ein Bad genommen. Dazu habe er Hemd und Hose ausgezogen und sei, nur mit der Unterhose bekleidet, in den Fluss gesprungen. Dieses Wissen war nützliche Munition und die blauen Flecke auf beiden Armen wert, die ich mir einfing, als ich Richard hänselte, er sei in Elizabeth verliebt.
    Am Morgen des Tages, an dem das Festmahl stattfinden sollte, scheuchte Mutter uns alle aus dem Haus, damit sie fegen und die Fußböden schrubben konnte. Tom hatte aus einem Tannenzweig und einer Darmsaite einen Bogen gebastelt und aus mit Entenfedern versehenen Stöckchen Pfeile gemacht. Wir versteckten uns hinter der Scheune, nicht etwa, weil der Bogen verboten war, sondern weil wir wegen der Wahl unserer Ziele sicher Ärger bekommen hätten. Die primitive Zielscheibe, die wir auf ein Brett gemalt hatten, war für Tom nämlich bald keine Herausforderung mehr, und die Kleintiere hatten sich schon längst in ihre unterirdischen Höhlen verkrochen. Also übten wir an Hannah und Andrew, indem wir ihnen einen Turm aus Stroh aufsetzten, der hoch genug war, um den Pfeil vom Kopf des Trägers abzulenken. Ich empfahl Tom, sich vorzustellen, der Turm sei der gereckte Hals eines Hirsches, der gerade Witterung aufnahm. Ein gut gezielter Pfeil in den Hals streckte einen Hirsch nämlich um einiges besser nieder als eine Wunde an Brust oder Flanke. Mit Hannah gaben wir es rasch auf, weil sie einfach nicht stillhalten konnte, sich ständig bückte, wegging oder den Turm fallen ließ. Andrew erwies sich da als brauchbarer, denn er war bereit, stocksteif und kerzengerade zu verharren und geduldig zu warten, bis Tom gezielt hatte. Tom legte einen Pfeil ein, spannte den Bogen und sagte zu Andrew: »Wehe, wenn du dich jetzt bewegst, bevor ich das Ziel getroffen habe. Sonst musst du den Turm für alle Ewigkeit aufbehalten.«
    In diesem Moment rief Mutter uns zurück ins

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