Die Tochter der Tibeterin
schuldet.
Chodonla hatte Kunsang gute Manieren beigebracht; nach alldem, was geschehen war, sah ich es mit Freuden. Bisher hatte ich mir keine Vorstellung davon machen können, wie das Mädchen Atan begegnete. In jener Nacht, als wir sie aus dem chinesischen Baulager entführt hatten, war sie verstört und misstrauisch gewesen, voll widersprüchlicher Empfindungen. Nun stand sie vor ihm, in Pulli und Jeans, ihre Füße steckten in nassen Baumwollsocken. Das blauschwarze Haar umrahmte ihre länglichen Wangen. Ich dachte, sie würde vielleicht befangen sein, doch nein, ich entdeckte in ihr viel Neugierde und eine große Lebhaftigkeit.
»Bleibst du jetzt bei uns, Onkel Atan?«
Schmunzelnd deutete er auf das Bild, das ich mit Reißnägeln an der Wand befestigt hatte.
»Soll ich das sein?«
Sie nickte glücklich.
»Ja. Erkennst du dich wieder?«
Er ließ sie nicht aus den Augen.
»Warum hast du mich gemalt, Kunsang?«
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Sie antwortete mit großer Natürlichkeit:
»Weil ich wollte, dass du kommst.«
Er lächelte, wenn auch nur flüchtig.
»Siehst du, jetzt bin ich da.«
Sie nickte. Sie war überzeugt, dass sie etwas bewirkt hatte. Die triumphierende Schalkhaftigkeit ihrer Augen zeigte es deutlich genug.
»Du hast versprochen, mir das Reiten beizubringen.«
Atans Ausdruck verfinsterte sich.
»Im Augenblick kann ich das Versprechen nicht halten. Ilha ist tot.«
Kunsangs Lächeln verschwand. Ihre Züge drückten Bestürzung aus.
»Dein schönes Pferd? Tot?«
Ich erinnerte mich an den perlmuttweißen Hengst mit dem edlen Kopf und der üppigen, gekräuselten Mähne.
»Was ist geschehen?«
»Er muss etwas gefressen haben, was ihm nicht bekommen ist.
Er starb an Koliken. Ich konnte nur hilflos zusehen. Er war seit zwölf Jahren mein Bruder.«
»Und was nun, Onkel Atan?«
»Der Verlust eines Pferdes ist schwer zu ertragen. Bei uns erzählt man sich die Geschichte eines Reiters, der die Knochen seines verstorbenen Lieblingspferdes in seiner Jurte aufbewahrte.«
»Ich kann das verstehen«, sagte ich.
Er nickte.
»Man kann ein Pferd nicht zähmen wie einen Hund. Nun bin ich auf der Suche nach einem Freund. Vielleicht lässt sich ein solches Tier finden. Aber mein Herz ist gebrochen.«
Kunsangs Lippen waren blass geworden. Sie sahen sich an; Atan las in den Augen des Kindes stillen Schmerz und antwortete darauf mit einem Blick.
»Dann werde ich warten«, sagte sie. »Bis du wieder einen Freund hast. Du musst dir ein neues Pferd anschaffen.«
»Das wird gar nicht so einfach sein.«
»Ich kenne ein Pferd«, erwiderte sie lebhaft. »Ich habe es oft gemalt. Wie gefällt es dir?«
Eifrig wühlte sie in einer Kladde, in der sie ihre Zeichnungen aufbewahrte, und brachte das Bild eines Pferdes zum Vorschein.
Atan besah es sich aufmerksam. Das Pferd war, im Gegensatz zu 28
Ilha, pechschwarz, mit einer kurzen, struppigen Mähne.
»Es ist sehr schmutzig und krank«, sagte Kunsang.
»Krank?«
Atan verzog das Gesicht. »Ich kann mit einem kranken Tier nichts anfangen.«
Sie schüttelte den Kopf, dass die Haare flogen.
»Es ist nur krank, weil es schlecht gepflegt ist. In Wirklichkeit ist es stark und schön. Es gehört einem Bauern, ganz in der Nähe. Du musst es dir unbedingt ansehen, Onkel Atan.«
Ein Pferd? dachte ich verwundert. Woher kennt Kunsang ein Pferd? Kunsang besaß eine scharfe Beobachtungsgabe, aber von dem, was sie auf ihren Streifzügen durch die Umgebung entdeckte, wusste ich nichts. Von einem Pferd hatte sie mir nie erzählt.
Inzwischen hantierte ich in der Kochnische und brachte auch Kunsang eine Schale Momo. Sie setzte sich und aß mit Appetit.
Atans Augen waren unverwandt auf sie gerichtet. Schließlich sagte er: »Gut. Ich sehe mir das Pferd an. Aber ich kann dir nicht versprechen, dass ich es kaufe.«
Sie nickte zufrieden und sprach nicht mehr darüber.
Etwas später kam Karma aus der Krankenstation. Karma war groß, mit einem vollen Gesicht, das einen herzförmigen Haaransatz hatte. Ihr ganzes Wesen strahlte Ruhe aus. Sie war älter als ich und empfand mir gegenüber eine Art mütterliche Verantwortung. Ich wusste, dass ihre Gefühle für Atan zwiespältig waren; sie schätzte seinen Wagemut ebenso, wie sie seiner Unrast misstraute. Ich hatte keine Ahnung, was Karma, die viel Lebenserfahrung hatte, in den Augen dieses Mannes alles sah; Dinge vielleicht, die ich nicht wahrhaben wollte. Doch Karma war auch sehr verständig, unbefangen und heiter. Und sie hatte eine lose Zunge, war
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