Perlentod
1
Senta lauerte vor der angelehnten Holztür. Seit einiger Zeit regte sich nichts mehr dahinter. Die Rote schien zu ahnen, dass man es auf sie abgesehen hatte. Vorsichtig, um kein verdächtiges Geräusch zu machen, verlagerte Senta ihr Gewicht auf das andere Bein und massierte den schmerzenden Oberschenkel. Sie war fest entschlossen, vor dem Schuppen auszuharren, bis sich ihr Opfer blicken ließ. In ihren behandschuhten Händen lag eine schwere Wolldecke, die sie über das Biest werfen wollte. Senta war auf heftige Gegenwehr vorbereitet.
Hoffentlich schläft sie nicht, dachte sie verärgert. Inzwischen brannten ihre Muskeln wie Feuer. Aber sie musste etwas tun.
Schon seit Wochen raubte die Katze mit dem braunroten Fell ihr den Schlaf. Nacht für Nacht hockte sie unter ihrem Fenster, maunzte und kratzte gegen die Hauswand. Anfangs hatte Senta literweise Wasser aus dem Fenster geschüttet, aber das hatte das Tier nicht im Geringsten beeindruckt. Im Gegenteil. Das Gemaunze war noch eindringlicher geworden und die Rote hatte sogar versucht, über die Holzverschalung, an der sich eine dickstämmige Clematis emporrankte, zu ihrem Fenster zu gelangen. Daraufhin hatte Senta die Taktik geändert und der Roten eine verlockende Falle gestellt. In einer Ecke des Gartens, unter dem Dachvorsprung des alten Schuppens, hatte sie der Streunerin allabendlich einen vollen Futternapf aufgestellt. Direkt daneben wartete eine weich gepolsterte Kiste. Doch die Rote schien wenig angetan. Niemals hatte sie auch nur eine Pfote in die Kiste gesetzt. Stattdessen war sie weiterhin jede Nacht unter das Fenster geschlichen und hatte, vom Futter gestärkt, ihr nächtliches Klagelied angestimmt.
Du musst dich mit ihr anfreunden, hatte ihre Mutter geraten und Senta damit zur Weißglut gebracht. Nicht im Traum wäre ihr eingefallen, sich mit einer blöden Katze anzufreunden. Seit sie denken konnte, waren ihr diese Wesen nicht geheuer.
Plötzlich raschelte es, Senta zuckte zusammen. Beinahe hätte sie das Auftauchen ihres Opfers verpasst. Geräuschlos hatte sich die Rote herangepirscht, ihr Köpfchen erschien im Türspalt. Senta fühlte die Spannung am ganzen Körper. Noch einen Sekundenbruchteil verharrte sie, die Decke weit aufgespannt. Erst, als die Katze den nächsten Schritt hinauswagte, reagierte sie entschlossen. Mitsamt der Decke warf sie sich über das ahnungslose Tier und drückte es auf den Boden. Während sie mit der Linken den schmächtigen Körper festhielt, versuchte sie mit der rechten Hand, das Tier fest in die Decke zu wickeln. Was ihr erstaunlicherweise sehr leicht gelang, die Rote hielt sich, wider Erwarten, ganz still. Sie wird doch keinen Herzinfarkt bekommen haben, schoss es Senta durch den Kopf, während sie das Bündel mit einem Seil verschnürte. Auch wenn der Stoff dicht gewebt war, konnte man da durch atmen. Schließlich wollte sie das kleine Biest damit nur fangen und nicht töten.
Sie packte das Bündel vorsichtig in den Fahrradkorb an ihrem Lenker, sicherte es mit einem Spanngurt und fuhr los. Mit einem Klagelaut machte sich die Rote bemerkbar. Senta bekam eine Gänsehaut. »Ruhe!«, sagte sie laut und versuchte, sich damit selbst zu beruhigen.
Sie überquerte die von hohen Pappeln gesäumte Landstraße und fuhr auf sandigem Grund weiter. Der Weg schlängelte sich ein paar Hundert Meter an vereinzelten Häusern mit großen Vorgärten und noch viel größeren Innenhöfen vorbei, bis er in einem Wald mündete. Linker Hand befand sich die »Brache«, wie sie die Wiese nannten, auf der sich die Dorfjugend manchmal zum Fußballspielen traf. Heute lag sie verlassen im Halbschatten des Waldes aus hochgewachsenen Fichten, silbrigstämmigen Buchen und buschigen Ebereschen.
Senta musste das Tempo drosseln. Immer wieder brachen durch den von altem Laub und Fichtennadeln bedeckten Weg die mächtigen Wurzeln der Bäume. Bald verschmälerte sich der Weg zu einem Trampelpfad. Senta wäre beinahe gestürzt, als sie in einem Sandloch ins Schlingern geriet. Gerade noch schaffte sie es, den Lenker herumzureißen. Prompt stimmte das Bündel in ihrem Korb ein erneutes Heulkonzert an. »Bald haben wir es geschafft«, murmelte Senta mehr zu sich selbst als zu der Roten. Der Wald hatte sich wieder geöffnet und der Weg wurde breiter. Er führte sie zwischen Heidekraut und zirpenden Grillen hindurch, über eine kleine Brücke, hin zu einem Waldrand. Irgendwie wirkte dieses Stück Wald weniger einladend als das erste. Vielleicht lag das an
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