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Die Tochter der Tibeterin

Die Tochter der Tibeterin

Titel: Die Tochter der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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Boden.«
    Sie zog die Glücksschärpe aus dem Ausschnitt ihrer Tschuba und hielt sie mir mit beiden Händen entgegen. Und da sah ich, das Kunsangs Handabdruck deutlich auf der Schärpe sichtbar war.
    Meine Kehle wurde eng vor Ergriffenheit. Ich suchte nach einer vernünftigen Erklärung und fand sie darin, dass Kunsangs schwitzende Handfläche sich auf den Boden abgestützt hatte und der Ruß von den vielen Kerzen und Butterlampen eine Schicht gebildet hatte, die nun wie ein dunkles Mal die weiße Seide tränkte. Longsela sah mich an, mit ihrer eigenen Mischung aus Unbefangenheit und Scheu, und es war wie ein Licht, das aus ihrem Gesicht strahlte.
    Nach einem kurzen Zögern erwiderte ich ihr Lächeln.
    »Vielleicht hast du recht. Hör zu, ich mache dir einen Vorschlag: Ich nehme jetzt die Glücksschärpe, weil ich Glück sehr nötig habe.
    Aber sie gehört dir, ich borge sie mir nur aus. Wenn ich zurückkomme und du eine berühmte Sängerin bist, bringe ich dir die Kata zurück.«
    Ich spürte plötzlich ihre Freude in der starren Frostluft des frühen Morgens. Langsam und ehrfurchtsvoll ergriff ich die Schärpe, die sie mir reichte, führte sie an meine Stirn, bevor ich sie sorgfältig in den 370
    Beutel steckte, den ich um meinen Hals trug. Longsela nickte glücklich.
    »Ja, so ist es gut. Ich habe von Kunsang geträumt, musst du wissen. Sie hat mir gesagt, ich soll dir die Kata geben.«
    Ich starrte sie überrascht an.
    »Hat sie dir auch gesagt, warum?«
    Sie zog die Stirn kraus.
    »Sie hat’s mir gesagt… ich hab’s bloß vergessen! Ich würde mich erinnern, wenn ich könnte.« Sie legte zwei Finger auf die Lippen, mit einem verwirrten Ausdruck im Gesicht. »Es ist… Es ist ihr Geheimnis!«
    Ich lächelte sie an, mit großer Zuneigung.
    »Mach dir keine Gedanken, Longsela. Was mich betrifft, ich weiß schon das eine oder das andere. Aber nicht alles, nein, auch wenn ich längst erwachsen bin. Es ist einfach so, dass wir manches nicht verstehen können. Und den Schluss nie kennen werden, in diesem Leben nicht, niemals.«
    Wir schwiegen. Sie betrachtete mich lange und lächelte plötzlich ebenfalls. Ihre hübschen weißen Zähne blitzten.
    »Eines Tages vielleicht doch«, sagte sie.
    371

Epilog

    D er Re een an diesem kalten Sonntag im März verwirrte mich.
    In meinem Traum hatte ich nur Sonnenschein gesehen. Immerhin, mein langes Warten – so lange, dass ich mich kaum mehr erinnern konnte, wann es begonnen hatte – war zu Ende. Ich atmete tief und erregt im Rhythmus meiner Gedanken. Es schüchterte mich ein, dass es heute geschehen konnte, an diesem Morgen, da Seine Heiligkeit am Gottesdienst im Basler Münster teilnahm. Er war zur Vernissage einer Ausstellung gekommen. Einzigartige tibetische Kunst- und Kulturobjekte würden im Museum der Kulturen eine neue Heimat finden. So kostbar die Schenkung auch war, ihre Großzügigkeit war eher geistiger Art. Tibets Götter hatten Anspruch auf Ehrfurcht. Das deckte sich mit den Werten, die auch die unsrigen waren. Ja, alles war richtig und gut. Ich wunderte mich auch nicht über die vielen Menschen im Gotteshaus, über ihre beinahe unwirkliche Ruhe. Ich schaute verstohlen in die aufmerksamen Gesichter und fühlte mich ihnen sehr nahe. Inzwischen hatten die Ehrengäste ihre Reden begonnen; doch die Fabel in meinem Kopf fesselte meine Aufmerksamkeit auf andere Weise. Es sprachen die Regierungspräsidentin, die Bundesrätin, der Münsterpfarrer, die Museumsdirektorin. Warum hörte ich nur mit halbem Ohr zu? Nicht, dass ihre geübten Stimmen nicht klar redeten, dass ihre Worte nicht eindrücklich waren. Aber die Erinnerungsbilder in mir spulten sich ab wie ein Filmstreifen. Meine Augen, die über Spitzbögen, Pfeiler und hohe, schmale Fenster wanderten, kehren immer wieder zu jenem Punkt zurück, wo alle Linien für mich zusammenliefen: zu dem hohen Stuhl, auf dem der vierzehnte Dalai Lama in seiner schlichten Robe, nachdenklich vornübergebeugt, den Reden lauschte. Der Abstand bewirkte, dass die Gestalt Seiner Heiligkeit mir gleichsam vertraut vorkam, wie ein lebendig gewordenes Bild in einem silbernen Rahmen. Ein Bild, das man mitnehmen konnte, als Trost für finstere Tage. Amla indessen hielt den Kopf gesenkt. Ich konnte auf ihrem Gesicht nichts lesen. Sie hatte ihre eigenen Erinnerungen, ihre eigenen Gebete. Mir jedoch war, als hörte ich die singenden Steine Tibets, das gewaltige Summen des Erdensterns, das Mitschwingen der Berge. Waren nicht die Steine das

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