Die Tochter der Wälder
schnippt. »Wieso sollte ich mich mit einem Kind abgeben, wenn ich einen echten Mann im Bett haben kann?«
Sie wendet sich Cormack zu. »Gefällt es dir, dein Messer in lebendem Fleisch zu drehen, hübscher Krieger? Dann interessiert dich vielleicht, was deine Schwester tut, wenn du nicht zu Hause bist. Denn ihr teilt nicht alle denselben Feind, fürchte ich. Du hast die Lektion deines Vaters gut gelernt – erst zuschlagen, dann fragen. Vielleicht hättest du diese Technik an mir ausprobieren sollen.«
Ich sehe Conors Augen, denn er steht ihr direkt gegenüber. Sie blitzen vor Mut. Er beschwört jeden Rest von Willenskraft herauf, sich ihr zu widersetzen. Aber er ist noch jung und noch nicht stark genug.
»Du hast versagt, kleiner Druide. Du hast sie alle im Stich gelassen. Und es gibt keine zweite Chance für jene, die mir in den Weg geraten. Hast du wirklich geglaubt, ihre Macht könnte größer sein als meine? Wie wenig du weißt, obwohl du dich für so weise hältst. Wir sind ein und dasselbe.«
Sie dreht sich um, und nun steht sie mir gegenüber. Ich werde keine Angst haben. Wieder begegnet es mir, diese Kälte, diese Fremdheit, das Flügelflattern. Ich sehe das Gesicht des Todes.
»Du hättest mich im Angesicht deines Vaters herausgefordert«, sagt sie. Eiseskälte zieht mir über die Wirbelsäule. »Du hättest deine Schwester um jeden Preis gerettet. Aber ich erkenne, was du bist, mein alter Feind. Deine Schwester wird nie sicher sein vor mir, ich werde sie finden, und sie wird leiden, bis sie sich nach dem Tod sehnt. Und ich werde dich dort hinschicken, wo es keine mutigen Ideale gibt, keine moralischen Höhen, kein Recht, kein Falsch. Nur überleben. Was nützen dir deine heroischen Taten dann?«
Und als Letztes zu Padraic, der mit vor Entsetzen ausdruckslosem Gesicht dasteht. »Du wolltest alles wissen. Wissen, wie man fliegt, wie alles, was lebt und was ist, funktioniert, das Muster aller lebenden Geschöpfe. Du sollst erfahren, wie es ist zu fliegen, und du sollst die Angst und den Schmerz eines wilden Tieres kennen lernen. Du sollst leben, bis du flehst, in die Menschenwelt zurückzukehren. Du wirst bleiben, und so wirst du sterben, und es gibt keine Heilung.«
***
Ich lag zusammengerollt in dem großen Baum, hatte die Augen fest geschlossen, die Hände auf die Ohren gedrückt. Aber die Bilder waren trotzdem in meinem Kopf, denn ich hätte Finbar nicht ausschließen können. Seine Qual war stärker als jede Beherrschung seiner Gedanken.
***
Langsam hebt sie die Hand. Das dunkle Cape fällt zurück, und man sieht ihr blaues Kleid, ihren dünnen Schal mit seinen zarten Mustern aus Blütenblättern und Schmetterlingen. Ihre Hand zeigt zum Himmel. Sie beginnt zu rezitieren, mit hoher, schriller, unheimlicher Stimme und in einer unbekannten finsteren Sprache. Plötzlich flackern Lichter um uns herum. Das Licht kommt von ihren Händen, vom Himmel, aus der Erde. Die ganze Lichtung ist voller Funken und Flackern. Die Vögel sind vor Angst verstummt. Die Rezitation erreicht ihren Höhepunkt und bricht ab. Und dann geschieht es. Die Kälte, das Rauschen, die Veränderung. Wo einmal feste Lederstiefel waren, sind jetzt die Schwimmhautfüße eines großen Wasservogels. Wo ein Umhang muskulöse junge Arme schützte – ein lang gezogener, gebogener, weißgefiederter Flügel. Und als Letztes verschwinden Geist und Denken. Leb wohl, Sorcha. Leb wohl, kleine Eule. Die Leichtigkeit, der Morgen, das Wasser. Wir sind Schwäne. Wir sind eins mit dem See. Wir sind …
***
Sie waren verschwunden. Meine Brüder waren verschwunden. Aber ihre Stimme fuhr fort und erklang in meinem Kopf. »Ich habe dich nicht vergessen, Sorcha, kleine Schwester. Wenn du müde und hungrig bist, wenn der Wald dir nicht länger Zuflucht gewährt, werde ich dich finden. Dann, wenn du es am wenigsten erwartest, werde ich dort sein. Denn ohne deine Brüder bist du nichts. Erst werde ich mich um deinen Vater kümmern; und dann hole ich dich.«
***
Ich kann mich kaum erinnern, wie ich an jenem Tag zu Vater Brien gekommen bin. Ich habe meine Kleidung zerrissen und mir die Knie aufgeschlagen und mich beim Klettern von Felsen zu Felsen blaugeschlagen. Linn hielt mit mir Schritt, beobachtete mich unruhig, wartete auf mich, während ich mich über den Fluss kämpfte, als ich die Klippen hinaufstieg. Mein Kopf war leer, und ich konnte nicht aufhören zu weinen. Die Kehle war mir wie zugeschnürt. Ich kletterte und weinte und weinte und
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