Die Tore der Welt
KAPITEL 1
Gwenda war acht
Jahre alt, aber sie fürchtete sich nicht vor der Dunkelheit. Darum hatte sie
auch keine Angst, als sie die Augen öffnete und ringsum alles finster war.
Gwenda wusste, wo sie sich befand: in der Priorei von Kingsbridge, in dem
langen Steingebäude, das alle »Hospital« nannten. Sie lag auf dem Boden, auf
einem Lager aus Stroh. Neben ihr lag ihre Mutter; an dem warmen, milchigen
Geruch erkannte Gwenda, dass sie gerade den Säugling stillte, der noch keinen
Namen hatte. Neben Ma lag Pa, und neben dem wiederum lag Gwendas älterer Bruder,
der zwölfjährige Philemon. In Wahrheit hieß er Holger, doch im Alter von zehn
Jahren hatte er beschlossen, Mönch zu werden, und überall verkündet, er habe
seinen Namen in Philemon geändert, weil das frommer klänge. Tatsächlich redeten
die meisten Leute ihn nun mit Philemon an; nur Ma und Pa sagten immer noch
Holger zu ihm.
Das Hospital war überfüllt, und
obwohl Gwenda die anderen Familien nicht sehen konnte, die auf dem Boden lagen,
dicht an dicht wie Schafe in einem Pferch, so roch sie doch den ranzigen
Gestank ihrer warmen Leiber. Wenn der Tag anbrach, war Allerheiligen, ein
Sonntag dieses Jahr und daher ein ganz besonderer Feiertag. Umso schrecklicher
war die Nacht davor: Samhain, eine gefährliche Zeit, in der böse Geister
ungehindert um die Häuser zogen. Deshalb waren Hunderte von Menschen aus den
umliegenden Dörfern nach Kingsbridge gekommen — so wie Gwendas Familie —, um
Samhain auf dem heiligen Boden der Priorei zu verbringen und bei Sonnenaufgang
am Hochamt zu Allerheiligen teilzunehmen.
Gwenda war wachsam, denn wie jeder
vernünftige Mensch hatte sie Angst vor bösen Geistern, doch mehr noch als böse Geister fürchtete sie, was
sie während des Hochamts würde tun müssen.
Und so starrte sie
in die Dunkelheit und versuchte, nicht an das zu denken, was ihr Angst machte.
Sie wusste, dass sich an der Wand gegenüber ein Bogenfenster befand. Es gab
kein Glas — nur die wichtigsten Gebäude hatten Glas —, aber ein Leinentuch
hielt die kalte Herbstluft draußen. Trotzdem konnte Gwenda dort, wo das Fenster
sein sollte, einen schwachen grauen Fleck erkennen. Sie war froh. Sie wollte
den Morgen nicht kommen sehen.
Gwenda sah nichts,
hörte jedoch umso mehr: Schnarchen und Husten und das Rascheln des Strohs,
sobald jemand sich im Schlaf bewegte. Ein Kind schrie, als wäre es aus einem
bösen Traum erwacht, verstummte jedoch nach ein paar raschen gemurmelten
Koseworten. Dann und wann sprach jemand — unverständliche Halbworte, wie man
sie im Schlaf von sich gibt. Von irgendwo kamen die Geräusche zweier Menschen,
die das taten, was auch Gwendas Eltern taten, worüber sie aber nie redeten —
das, was Gwenda »Grunzen« nannte, denn sie kannte kein anderes Wort dafür.
Viel zu schnell für
Gwenda wurde es hell, doch es war bloß ein Mönch, der am Ostende des langen
Raums, hinter dem Altar, mit einer Kerze in der Hand aus einer Tür kam. Er
stellte die Kerze auf den Altar, zündete einen Wachsstock daran an und ging
damit herum, um die Wandlampen zu entzünden. Dabei flackerte sein langer
Schatten jedes Mal die Wand hinauf, und der Wachsstock traf sich mit einem
Schattenwachsstock am Docht der Lampe.
Das zunehmende
Licht fiel auf zusammen gekauerte Gestalten auf dem Boden, in graubraune Mäntel
gewickelt oder auf der Suche nach Wärme an ihre Nachbarn gedrängt. Kranke
lagerten am Altar, weil sie dort am meisten von der Heiligkeit des Ortes
profitieren konnten. Am gegenüber liegenden Ende führte eine Treppe in den
oberen Stock hinauf, wo sich die Kammern für adelige Besucher befanden, in
denen zurzeit der Graf von Shiring mit einem Teil seiner Familie wohnte.
Der Mönch beugte
sich über Gwenda, um die Lampe über ihrem Kopf zu entzünden. Dabei schaute er
ihr in die Augen und lächelte.
Gwenda musterte
sein Gesicht im flackernden Schein der Flamme und erkannte ihn als Bruder
Godwyn. Er war jung und gut aussehend, und am vergangenen Abend hatte er
freundlich mit Philemon gesprochen.
Neben Gwenda war
eine andere Familie aus ihrem Dorf: Samuel, ein wohlhabender Bauer mit großem
Landbesitz, sowie seine Frau und seine beiden Söhne. Der jüngere, Wulfric, war
ein sechsjähriger Lausebengel, der es für das Lustigste auf der Welt hielt, mit
Eicheln nach Mädchen zu werfen und dann schnell weg zu rennen.
Gwendas Familie war
arm. Ihr Vater besaß kein Land; er verdingte
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