Die Tote am Watt
verlangten, einen Mörder nicht dort beizusetzen, wo anständige Wenningstedter Bürger ihre letzte Ruhe fanden. Aber Andresen stammte nun mal aus Wenningstedt, hatte die Grabstelle vor Jahren gekauft, und an seinem Anspruch, dort mit seiner Familie beerdigt zu werden, gab es nichts zu rütteln. Bevor die Diskussion ausufern konnte, hatte der Pfarrer die Beisetzung durchgeführt, ohne dass jemand etwas davon wusste. Nun also ruhte Wolf Andresen hier, neben ihm seine Frau Ulla und mit ihnen ihre Tochter Saskia, die so jung sterben musste, obwohl ihr Vater alles getan hatte, um sie zu retten.
»Wirklich alles!«, flüsterte Mamma Carlotta. »Aber alles war falsch.«
Sie platzierte ihr Sträußchen in der Mitte des Grabes, faltete die Hände und legte im Himmel ein gutes Wort für Wolf Andresen ein. Er würde es gebrauchen können.
Gerade wollte sie sich abwenden, als sie von hinten auf Italienisch angesprochen wurde. »Buongiorno, Signora! Wie nett, Sie wiederzusehen!«
Mamma Carlotta fuhr herum und starrte den gut aussehenden Herrn an, der sie lächelnd betrachtete. Wo hatte sie ihn schon einmal gesehen? In ihrem Dorf? Nein, unmöglich! Nicht einmal als Tourist hätte er dort hingepasst, elegant, wie er war! Also blieb nur eine Möglichkeit: Diese Bekanntschaft musste etwas mit dem einzigen Abenteuer ihres Lebens zu tun haben.
»Welch eine Freude!« Sie vergaß von einem Augenblick zum anderen die Tragik, die mit dem Ort zusammenhing, an dem sie sich befand. Was gab es Schöneres, als eine Reisebekanntschaft zu erneuern und zu vertiefen? »Sie haben mir während des Fluges gar nicht erzählt, dass Sie auch auf Sylt zu tun haben!«
Carlotta Capellas Sitznachbar verriet mit keiner Silbe, dass er während des Fluges kaum zu Wort gekommen war. »Eigentlich hatte ich auch nicht vor, nach Sylt zu fahren«, antwortete er. »Aber als mein Geschäftstermin in Hamburg erledigt war, las ich in der Zeitung von dem tragischen Schicksal eines alten Bekannten. Nach meinem Abitur bin ich ein halbes Jahr durch Deutschland gezogen, da meine Mutter deutsche Vorfahren hat. Auf Sylt war ich ungefähr vier Wochen. Damals habe ich mit Wolf Andresen ehrenamtlich in der Vogelkoje gearbeitet. Es scheint, als sei ihm in seinem Leben nicht viel geglückt. Man sagte mir, er läge hier begraben …«
Das waren für die nächsten Stunden die letzten zusammenhängenden Sätze, die er von sich geben durfte. Mamma Carlotta griff aufgeregt nach seinem Arm. »Sie kannten Wolf Andresen? Kommen Sie, ich kann Ihnen eine Menge von ihm erzählen. Stellen Sie sich vor, er wollte auch mich umbringen …«
Der römische Geschäftsmann warf einen Blick zurück auf das frische Grab, dann verzichtete er auf das stille Angedenken an den alten Freund. Denn Mamma Carlotta kündigte an, ihm die ganze Geschichte in allen Einzelheiten erzählen und ihn anschließend ihrer Familie vorstellen zu wollen.
»Haben Sie schon das Sylter Inselblatt gelesen? Der Hauptkommissar, der dort lobend erwähnt wird, ist mein Schwiegersohn! Er hat ganze Arbeit geleistet. Ich werde Ihnen alles genau erklären. Ich hoffe, Sie haben viel Zeit …«
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