Die Tote von Charlottenburg: Kriminalroman (German Edition)
gibt es noch zu besprechen?«
»Nun, da wäre zum einen eine Formalität. Da der Fall aufgeklärt ist, wird der Leichnam von Frau Dr. Strauss freigegeben. Weil es keine anderen Angehörigen gibt, an die wir uns wenden können, muss ich es leider Ihnen mitteilen. Dann können Sie endlich in einem würdevollen Rahmen Abschied nehmen.«
»Ich gebe unserem Anwalt Bescheid. Er soll … die nötigen Schritte einleiten.«
»Ich …« Leo zögerte, wollte nichts Banales sagen. »Was Sie gestern getan haben, kann ich in gewisser Weise verstehen. Es sind viele Dinge über Sie hereingebrochen, die ein Mensch kaum bewältigen kann.« Er trat ans Fenster und schaute in den Hof, in dem sich das gelbe Laub sammelte. »Sie haben das Gefühl, alles verloren zu haben.«
»Ist es nicht so?«, fragte Lehnhardt leise.
»Sie haben viel verloren, aber nicht alles. Sie haben noch die Musik.«
Lehnhardt lachte bitter. »Meine Musik? Soll ich nur noch für Fremde spielen? Zu Hause hört mir niemand mehr zu.«
Leo überlegte, welchen Trost es für den jungen Mann gab, der in so kurzer Zeit alle Angehörigen verloren hatte. Seine Mutter, die in Wahrheit seine Tante war, würde vermutlich eine lange Gefängnisstrafe antreten, falls nicht sogar ein Todesurteil gesprochen werden würde. Das hing von vielen Umständen ab, unter anderem auch von ihrem Geisteszustand. Verloren hatte er sie in jedem Fall.
»Vielleicht sollten Sie eine Weile verreisen. Weit weg. In eine völlig fremde Welt eintauchen. Und wenn Sie sich stark genug fühlen, fangen Sie wieder mit dem Geigenspiel an.«
Lehnhardt schluckte. »Ich weiß nicht, ob ich das kann. Die Musik erinnert mich an meine Mutter und … meine Tante, an alles, was war. Ich weiß nicht einmal, wer ich bin. Meine Eltern sind nicht meine Eltern. Meinen leiblichen Vater werde ich nie kennenlernen, ich weiß nicht einmal seinen Namen. Ich bin nichts.«
Leo war ratlos angesichts dieser tiefen Verzweiflung. Er wollte sich schon verabschieden, als ihm noch etwas einfiel.
»Sie sollten einmal mit Dr. Dahlke sprechen.«
»Mit wem?«, fragte Lehnhardt in gleichgültigem Ton.
»Erinnern Sie sich nicht, dass Sie mir von ihm erzählt haben,als Sie das erste Mal bei mir im Büro waren? Ihre Tante, ich meine, Ihre Mutter sei mit einem gewissen Dr. Dahlke bekannt gewesen, der dabei sei, ein buddhistisches Haus in Frohnau zu errichten. Wir waren im Verlauf der Ermittlungen bei ihm, er konnte uns einige Hinweise geben. Vielleicht hilft es Ihnen, mit einem Menschen zu sprechen, der Ihre Mutter von einer anderen Seite gekannt hat. Einem Mann mit viel Lebenserfahrung, der weite Reisen unternommen hat.«
»Soll ich mich von ihm bekehren lassen?«, fragte Lehnhardt beinahe aggressiv.
Kein schlechtes Zeichen, dachte Leo, er erwacht zum Leben. »Natürlich nicht«, meinte er lächelnd. »So etwas würde er gewiss nicht versuchen. Trotzdem, reden Sie mit ihm.« Dann verließ er endgültig das Zimmer.
»Frau Lehnhardt, unsere Beamten haben heute Ihr Haus durchsucht und folgende Beweisstücke gefunden, die ich Ihnen nun vorlege. Sie können sich jederzeit dazu äußern«, erklärte Leo am Nachmittag im Verhörzimmer. Er wollte in einem kahlen Raum mit ihr sprechen, in dem nichts von der Befragung ablenkte. Fräulein Meinelt war anwesend, ebenso Robert Walther, der einen Karton hereingetragen und auf den Tisch gestellt hatte. Berns und Sonnenschein waren noch in Lichterfelde und suchten nach dem letzten Beweisstück.
Rosa Lehnhardt saß reglos da, die Haare zu einem unordentlichen Knoten gesteckt. Sie trug das Kleid vom Vortag, auf dessen Brust ein Kaffeefleck prangte.
»Hier haben wir eine Doktorarbeit, deren Titel ich Ihnen bereits gestern genannt habe. Darin findet sich unter anderem eine genaue Anleitung zur Aufbereitung der Paternostererbse in einer wässrigen Lösung.« Er legte das schmale Bändchen auf den Tisch. »Des Weiteren ein Buch mit dem Titel ›Handbuch der Drogisten-Praxis‹. Ein Werk über Augenheilkundeaus dem vergangenen Jahrhundert, in dem Nutzen und Gefahren der Paternostererbse, der sogenannten Jequirity-Pflanze, aufgeführt sind.« Dieses Buch hatten sie ebenfalls im Kleiderschrank entdeckt. »Im Keller fanden wir einen chemischen Experimentierkasten, der Ihrem Sohn gehört hat, seit Jahren aber nicht von ihm verwendet wurde. Die Utensilien sind erst kürzlich sorgfältig gespült worden, aber wir hoffen, dennoch Rückstände daran zu finden, die beweisen, dass damit
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