Das Leuchten in der Ferne: Roman (German Edition)
Geiger und Zahl
Sechs Monate vorher, im Mai, saß Martens im Warteraum des Bürgeramts. Es war der wärmste Mai seit Einführung der Berliner Bürgerämter und der wärmste seines Lebens, das nun schon dreiundfünfzig Jahre währte und sich über zwei Jahrtausende erstreckte. Er saß hier, weil er versagt hatte. Es war ihm nicht gelungen, seine schöne, aber teure Wohnung in Schöneberg zu halten, er hatte sie verlassen müssen, um sich in einer halb so großen Wohnung an der Grenze zu Neukölln einzumieten, eine Wohnung, die bei Tag dunkel war und bei Nacht laut. Er hörte über sich ab 20.00 Uhr das mechanische Stöhnen einer Frau, die erst nach Mitternacht damit aufhörte. In den Pausen, wenn sie sich wusch und für den nächsten Besucher bereit machte, begann in der Nebenwohnung jemand Geige zu üben. Martens lebte erst seit einer Woche dort und hatte noch nicht herausgefunden, warum der Geiger nur in den Stöhnpausen der Frau spielte und damit aufhörte, wenn sie wieder zu arbeiten begann. Welcher Zusammenhang bestand da? Meist spielte der Geiger Mozart, auf eine ähnlich mechanische Weise, wie die Frau stöhnte. Die eine imitierte Lust, der andere Musik. Der Geiger gab Martens immerhin das Gefühl, noch nicht ganz am Rand angekommen zu sein, immerhin kannte in diesem heruntergekommenen Haus einer das Allegro moderato aus dem Violinkonzert in B-Dur.
Viel gelesener Reporter, dachte Martens. Viel gelesener – diesen Ausdruck hatte einer seiner Chefredakteure einmal in einem Arbeitszeugnis benutzt. Irgendwann klopfe ich beim Geiger, dachte Martens, und sage, hallo, ich war ein viel gelesener Reporter und Sie besitzen Mozart-Noten, lassen Sie uns gemeinsam eine Oper komponieren, ich schreibe das Libretto, mit Opern kann man reich werden, denken Sie nur mal an die Zauberflöte.
Martens wurde schläfrig. Alle Luft im Wartesaal des Bürgeramts war schon weggeatmet, man lebte von dem, was die anderen einem beim Ausatmen übrig ließen. Er dachte, dass er wahrscheinlich nie mehr ein viel gelesener Reporter sein würde, zu groß war die Krise, seine und die der Printmedien. Die Leute informierten sich über die Kriege dieser Welt fast nur noch im Fernsehen oder im Internet, sie trauten Bildern mehr als Texten, sie hielten Fotos und Filme für neutraler, während die deutlich gekennzeichnete Autorschaft eines Textes in ihnen den Verdacht der Subjektivität weckte. Kaum eine Zeitung räumte der Kriegsreportage noch Platz ein, und für einen Korrespondenten-Job, die einzig halbwegs akzeptable Alternative, war Martens inzwischen zu alt. Für das eine zu alt, und zu störrisch, um das andere aufzugeben: Wider besseres Wissen glaubte er nach wie vor an die Kriegsreportage, er glaubte an den Text. Er glaubte, dass der subjektive Bericht eines Einzelnen das Wesen eines Krieges und die mit ihm zusammenhängenden Vorgänge besser erschließen konnte als ein Dokumentarfilm. Gerade durch die Subjektivität gelangte man in eine Tiefe, in die der Film nie hinabreichen konnte. Beispielsweise war die Landschaft prägend für den Charakter eines Krieges. Die entscheidenden Merkmale einer Landschaft ließen sich zwar abfilmen, aber nicht ergründen, denn das Wesentliche war das Zusammenspiel zwischen den Eigenheiten der Landschaft und den Menschen, die sich auf vielfältige Weise darin bewegten. Aber es war schwierig, das den jungen Redakteuren beizubringen, den Absolventen der Henri-Nannen-Schule, deren Lebenserfahrung in eine Streichholzschachtel passte.
Ach hör auf!, dachte Martens. Er ging sich mit seinen repetitiven Klagen selbst auf die Nerven. Ihm ging es vergleichsweise gut, andere wurden beschossen. Andere sind tot, auf andere hast du vielleicht geschossen, auf die Frau in Quatliam. Der Gedanke an die Frau trieb ihm das Selbstmitleid aus. Wenn er an die Frau dachte, wurde es still in ihm.
Nach einer Weile schaute er auf. Die Leuchttafel, die die Wartenden im Warteraum in Knechtschaft hielt, zeigte die Zahl 136. In seinen Händen hielt Martens die Nummer 158. Martens ließ die Zahl 136 nicht aus den Augen. Er zählte, einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig. Bei hundertundfünfzehn änderte sich die Zahl in 137. Bei 142 betrat Miriam den Warteraum.
Ein Geschenk
Miriam fiel ihm auf, weil sie sich schön bewegte. Wie sie den Nummernzettel am Automaten abriss. Wie sie die Hand des kleinen Jungen, der mit ihr war, vom Automatenknopf sanft wegschob. Die Art, wie sie den Kopf drehte, als sie sich nach einem freien Stuhl
Weitere Kostenlose Bücher