Die Tote von Charlottenburg: Kriminalroman (German Edition)
nickte.
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DIENSTAG, 30. OKTOBER 1923
Rosa Lehnhardt hatte die Bilder aus dem Album genommen und auf dem Bett ausgebreitet. Das Haar fiel ihr unfrisiert und wirr auf die Schultern. Sie trug noch den Morgenmantel, obwohl es schon elf Uhr war.
Sie nahm eine der sepiabraunen Photographien mit dem gezackten Schmuckrand in die Hand und strich vorsichtig mit dem Zeigefinger darüber. Es war das älteste Bild von ihr und Jette. Ihre kleine Schwester lag in einem weißen Kleidchen bäuchlings auf einem Fell, sie selbst saß mit untergeschlagenen Beinen in Knöpfstiefelchen daneben und hatte eine Hand sanft auf Jettes Rücken gelegt. Sie blickte ernst und schien sich der Verantwortung für die Kleine bewusst zu sein.
Ein anderes Bild zeigte sie selbst im Alter von etwa zehn Jahren am Klavier. Jette lehnte mit der Schulter dagegen. Aus Jettes Haltung sprach Ungeduld, als wollte sie sagen, lass mich doch an die Tasten, ich kann es besser als du. Was natürlich stimmte, obwohl Jettes Herz nie so sehr daran gehangen hatte wie Rosas. Doch die musikalischen Eltern verlangten, dass beide Töchter Klavier spielen lernten, wenngleich es der Älteren an Talent fehlte. Rosa war immer froh gewesen, dass wenigstens Adrian die musikalische Begabung seiner Großeltern geerbt hatte, während ihr verstorbener Mann sich von seinem Sohn mehr Geschäftssinn gewünscht hätte. Keinen Nachfolger für die Firma zu haben, war ein schwerer Schlag für ihn gewesen.
Rosa nahm alle Photographien nacheinander in die Hand, betrachtete sie still und steckte sie wieder in die vorgestanzten Schlitze der Pappseiten. Sie wollte das Album gerade schließen und wegräumen, als ihr ein vergilbter Umschlag entgegenrutschte, der auf der letzten Seite in einem Schlitz gesteckt hatte. Sie öffnete ihn und zog eine alte Ansichtskarte heraus. Ein Ort in den Bergen, am Ende des weiten Tals waren schneebedeckte Gipfel zu erkennen. Rechts im Vordergrund ein von Bäumen gesäumter Weg. »Blick auf Davos« stand in geschwungener Schrift auf der Karte zu lesen.
Mit einer abrupten Bewegung schob sie die Karte zurück in den Umschlag, warf einen Blick auf den Papierkorb und zögerte. Schließlich stand sie auf und legte das Kuvert in die linke Schublade des Sekretärs. Dann verstaute sie das Album im obersten Fach und verschloss den Sekretär.
In der Strauss’schen Wohnung in Charlottenburg streiften Leo Wechsler, Robert Walther, Otto Berns und Jakob Sonnenschein Handschuhe über und nahmen sich jeder einen Raum vor. Frau Stranzke war missbilligend an der Tür stehengeblieben, worauf Berns diese höflich, aber entschieden geschlossen hatte. So wertvoll Portiers auch sein mochten, so neugierig und lästig konnten sie bisweilen werden.
Leo untersuchte das Schlafzimmer. Er öffnete nacheinander die Schubladen der Frisierkommode. Die Tote war eine ordentliche Frau gewesen. Hier herrschte nicht das übliche Durcheinander aus Schmuckstücken, Taschentüchern, Kosmetika, Andenken, Seife und anderem Kram, sondern es gab kleine Schachteln und Körbchen, gewiss Reiseandenken, in denen die Utensilien verstaut waren. Wenige Schminksachen, diese aber von guter Qualität. Ein kleiner, mit Spiegelscherben besetzter Gegenstand, dessen Funktion er erst erkannte, als er daneben ein Bündel schwach duftender Räucherstäbchen entdeckte. Eine Schachtel mit fremdländischen Münzen.Die Reisen nach Asien, die schon lange zurücklagen, schienen ein wichtiger Teil von Henriette Strauss’ Leben gewesen zu sein. Er suchte weiter. Taschentücher mit Monogramm, vielleicht Teil einer Aussteuer, die Henriette Strauss nie gebraucht hatte. Hornkämme, eine hochwertige Haarbürste, Haarklammern. Er erinnerte sich, dass die Ärztin die Haare lang getragen hatte.
Mehr gaben die Schubladen nicht her. Leo betrachtete die Parfumflaschen, die auf der Ablage vor dem Frisierspiegel standen. Er roch an einigen, auch sie waren von erlesener Qualität. »L’Heure Bleue« und »Mitsouko« von Guerlain waren darunter, und ein kleiner Flakon mit der Aufschrift »No. 5 Chanel«. Entweder hatte Dr. Strauss einen großzügigen Liebhaber gehabt oder sich selbst gern etwas Besonderes gegönnt. Leo hielt einen Augenblick inne und roch noch einmal an den drei Flakons. Ob Clara sich wohl auch über ein edles Parfum freuen würde?
Die altmodischen Pumpflakons waren leer, vielleicht eine Erinnerung. Daneben stand die schön gearbeitete messingfarbene Flasche oder Vase, die ihm schon beim ersten Besuch
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