Die Tote von Charlottenburg: Kriminalroman (German Edition)
sie letztlich zum Mörder von Henriette Strauss führen würde.
Dr. Rudolf Stratow war auf dem Weg zur Straßenbahn. Es war spät geworden in der Klinik, und er freute sich auf ein gutes Glas Wein und die Abendzeitung. Den Mantelkragen hatte er gegen die Kälte hochgeschlagen. Die Straßenlaternen spiegelten sich im nassen Pflaster, von hinten ertönte das Klingeln einer Straßenbahn. Er drehte sich um, um zu sehen, ob es seine Linie war.
Der Angriff traf ihn völlig unerwartet. Erst fühlte er nureinen dumpfen Schlag, dann überfiel ihn ein reißender Schmerz, und er spürte, wie etwas Warmes an seinem Hals herunterlief. Die Gestalt vor ihm verschwamm. Er sah noch eine erhobene Hand, dann prallte etwas gegen ihn. Jemand rannte davon. Er klammerte sich an rauen Stoff, einen Mantel vielleicht, krallte sich förmlich daran fest. Schließlich wurden seine Hände schlaff. Er fiel auf die Knie, und alles wurde dunkel.
15
SONNABEND, 3. NOVEMBER 1923
Adrian Lehnhardt lief in der Garderobe auf und ab. Heute war ein wichtiger Tag, die Generalprobe für die morgige Matinee stand an, doch er konnte sich nicht konzentrieren. Der Gedanke an die beiden Briefe, die der Polizist ihm gezeigt hatte, quälte ihn außerordentlich. Er wollte nicht mehr an die Kluft denken, die zwischen ihm und Tante Jette so kurz vor ihrem Tod entstanden war. Er konnte den Gedanken nicht ertragen, dass sie im Unfrieden mit ihm gestorben war. Eigentlich hatten sie sich kurz vor ihrem Tod wieder bestens verstanden. Adrian hatte damit gerechnet, dass sie den Brief vernichtet oder zumindest nicht so offen zurückgelassen hätte.
»Noch drei Minuten«, rief jemand vor der Tür.
Er griff nach Instrument und Bogen, doch sie fühlten sich an wie Fremdkörper, wie lebloses Holz, dem er keinen Ton entlocken würde.
Ruhelos trat er ans Fenster und schaute auf die belebte Straße. Es wäre sein erstes Konzert nach Tante Jettes Tod. Nie wieder würde sie ihm vorher dreimal über die Schulter spucken, nie wieder im Publikum sitzen und ihm das Gefühl vermitteln, dass er nur für sie spielte. Er biss sich auf die Lippen. Konzentration, nur das zählte jetzt. Tante Jette würde nicht wollen, dass er morgen versagte, dass er sich von dem ablenken ließ, was ihm am meisten bedeutete.
Warum hatte er nicht gesagt, dass die Zeilen von ihm stammten? Seine Mutter hatte daneben gestanden. Etwashatte ihn daran gehindert, in ihrer Gegenwart einzugestehen, dass er seiner Tante auf diese Weise geschrieben hatte. Es kam ihm plötzlich zu intim vor, zu … er fand keine Worte dafür. Er wollte diese Vertrautheit für sich bewahren, sie nicht den Fragen der Polizisten preisgeben.
Hoffentlich hatte sie seine Schrift nicht erkannt. Allerdings war er so aufgewühlt gewesen, als er die Zeilen geschrieben hatte, dass sie ihm nun selbst fremd erschienen waren.
Dass Tante Jette ermordet, aus ihrem so reichen, erfüllten Leben gerissen worden war, hatte ihn völlig aus dem Gleichgewicht gebracht. Was fest gewesen war, schwankte; was klar und deutlich vor ihm gestanden hatte, verschwamm im Nebel. Seine Augen brannten, und er kniff sie zu, bis er sich wieder in der Gewalt hatte.
»Herr Lehnhardt, die Probe fängt an.«
Er klemmte den Bogen unter den Arm und schritt entschlossen zur Tür.
Es lief besser als erwartet. Adrian war ganz zufrieden mit sich, als er nach der Probe in die Garderobe zurückkehrte und seine Geige behutsam in den Kasten legte. Alle waren zuversichtlich, dass es ein gelungenes Konzert werden würde. Beim Spiel hatte er die gewohnte Ruhe wiedererlangt.
Morgen würde er für Tante Jette spielen. Woran auch immer sie geglaubt haben mochte – wenn etwas Körperloses von ihr zurückgeblieben war, würde es in der Nähe sein und zuhören.
In dieser friedlichen Stimmung zog er den Mantel an und wollte gerade nach dem Geigenkasten greifen, als es klopfte.
»Ja, bitte?«
Die Tür ging auf, und er sah sich Kriminalassistent Berns gegenüber. Adrian wich einen Schritt zurück. »Was wollen Sie denn hier?« Er merkte, wie unhöflich das geklungen hatte. »Verzeihung, ich wollte gerade gehen. Was führt Sie her?«
Berns zog einen Notizblock hervor. »Ich muss Sie um eine Schriftprobe bitten.«
Adrian schaute ihn verständnislos an. »Wozu?«
»Wir müssen einige Dokumente abgleichen, Herr Lehnhardt. Wenn ich bitten dürfte … Schreiben Sie einfach einige Sätze, der Inhalt ist völlig egal.« Er räusperte sich. »Ich möchte darauf
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