Die Tränen der Massai
und dann vertieften sich die Farben zu Orange, Blau und Violett, dem Zeichen, dass ein Geist sich näherte. Aber die Traumfarben verschwanden wieder. Lenana verzog das Gesicht und versuchte, die Farben der Sonne zurückzuzwingen, damit sie Mweiya brachten, wie er es gewohnt war. Aber der sich bewegende Nebel blieb weiterhin kalt und grau.
Plötzlich erschien eine Gestalt. Es war nicht Mweiya, aber der Mann war Lenana dennoch vertraut.
»Sendeyo!«, sagte Lenana.
»Bruder. Du bist überrascht, mich zu sehen?«
»Wie bist du hierher gekommen, Sendeyo? Ich habe dich nicht gerufen. Geh jetzt. Ich erwarte Mweiya.«
»Aber es war er, der mich zu dir geschickt hat, Bruder.«
»Du lügst, wie du es immer tust. Und jetzt machst du dich sogar vor dem Ersten zum Narren.«
»Das stimmt nicht, Bruder. Du willst Anworten, willst wissen, wieso deinem Volk so schreckliche Dinge zugestoßen sind, oder? Man hat mich geschickt, weil ich habe, was du suchst.«
Lenana versuchte, den Blick seines Bruders zu deuten. »Also sprich.« Sendeyo lächelte und genoss diesen Augenblick.
»Bruder, die Pestilenz und das Leiden deines Volks kommen aus deinem eigenen
Enkang,
deinem eigenen Dorf.« Er hielt inne, um Lenanas verblüfften Gesichtsausdruck zu genießen. »Es waren deine Taten, die dieses Leid über deine Familie und dein Volk gebracht haben.«
Als Lenana schwieg, fuhr Sendeyo fort. »Als du durch Heimtücke Nachfolger unseres Vaters wurdest –«
»Unser Vater Mbatian hat mir die Steine gegeben!«
»Ich bin der ältere Sohn. Es stand mir zu, ihm nachzufolgen.« Sendeyos Abbild bebte im flackernden Licht.
»Aber ich bin der
Laibon«,
erklärte Lenana trotzig und mit einem dünnen Lächeln.
»Es waren Betrügereien, die dir die Nachfolge eingebracht haben.«
»Und du bist ein Dieb, Sendeyo! Du hast Mbatians heilige Steine gestohlen, um schwarze Magie zu praktizieren. Für dieses Verbrechen habe ich dich verbannt.«
»Ja, du hast mich und meinen Klan verbannt … Aber das ist gleichgültig, denn ich habe die Steine, und ich habe gelernt, ihre Macht zu nutzen.« Sein Lachen war ein widerwärtiges Geräusch, das in dem wirbelnden Nebel von Lenenas Vision widerhallte. »Du selbst bist Zeuge meines Erfolgs mit ihrer Magie.«
»Wie meinst du das?«
»Dieser Tod, der deine Lieben nimmt und sich deinen jämmerlichen Anstrengungen widersetzt, ihn zu besiegen, kommt aus deinem eigenen
Enkang.
Er ist die Folge deines Betrugs!« Der Nebel wogte in großen Schwaden um Sendeyo herum. »Ich bin das Werkzeug deiner Strafe. Ich habe diesen Fluch über dich und deinen Klan verhängt. Ha! Wenn du wirklich der
Laibon
bist, wieso kannst du dann den Dorn, der dir solche Qualen verursacht, nicht erkennen und ihn herausreißen?« Wieder lachte Sendeyo.
Lenana ballte die schmerzenden Hände zu Fäusten und lockerte sie wieder. »Genug von diesem leeren Geschwätz! Wenn du gekommen bist, um dich an unserem Leid zu erfreuen, genieße es und dann verschwinde. Lass mich in Frieden.«
»Nein, Bruder, ich bin nicht gekommen, um meine Schadenfreude zu genießen, sondern um dich zu informieren. Da du nicht imstande bist, den Grund für dieses Leid zu finden, informiere ich dich.«
»Warum?«
»Ah, vielleicht, weil es mich erfreut, es dich wissen zu lassen.«
»Also sag es mir«, zischte Lenana.
»Komm schon, Lenana. Du musst es doch wissen. Denk nach. Oder hat dein schwächlicher Geist dich vollkommen verlassen? Hier, ich werde dir helfen. Sag mir eines: Wann litten deine Leute zum ersten Mal an dieser Krankheit, dem Fieber und den Wunden, aus denen Wasser und Eiter dringen?«
Der Nebel zeigte ihm ein Bild seines erbarmungswürdigen Volkes, dessen aufgedunsene Körper in ihrem eigenen Dreck lagen. Die schreckliche Krankheit war aus der südlichen Savanne gekommen und hatte einen schnellen, aber unwürdigen Tod gebracht.
»Und wann begann die Viehseuche? Du musst dich doch an den Tod deiner eigenen Rinder erinnern.«
Lenana erinnerte sich. Die Herden waren in ihrem eigenen Schleim ertrunken. Kadaver hatten das Land von einem Horizont zum anderen bedeckt. Eine Hungersnot war die Folge gewesen. Dann hatte es zwischen den Klans Kriege um die wenigen verbliebenen Rinder gegeben.
Es war zu viel für Lenana. Er konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Wann war das gewesen? Die Trockenheit war der Krankheit gefolgt. Aber wann hatte es begonnen? War es in der Trockenzeit nach dem Tod seines Vaters gewesen? Ja! Das war es. Das Jahr der
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