Die Tränen der Massai
Prolog
S ie kamen aus dem Norden, aus dem Nilbecken, und von diesem Fluss erhielten sie auch ihren Namen: Niloten. Hoch gewachsen. Ebenholzschwarz. Sie waren ein sehr widerstandsfähiges Volk; die Männer so zäh wie eine Lederschnur, die Frauen elegant und anmutig. Wunderschön.
Sie hatten seit drei Jahrtausenden den Boden ihres Tals bearbeitet. Es gab viel zu essen, und die Menschen waren glücklich. All diese Zeit hatten sie ein gutes Leben geführt, so gut, dass sie kaum so etwas wie Herrscher brauchten. Wenn es Streit gab, sprachen die Ältesten miteinander darüber.
Im Paradies gab es keine Sünde.
In dem tiefer gelegenen Teil des Tals, wo die schwarze Erde an den Ufern des mächtigen Flusses von seinem alljährlichen Hochwasser genährt wurde, blieb es fruchtbar, Jahr um Jahr, Jahrzehnt um Jahrzehnt. Aber an den Hängen und auf der Hochebene oberhalb des Flusstals gab es viele Bauern, denen es nicht so gut ging. Das Land verlor nach und nach seine Kraft. Es spielte mit ihnen, indem es Jahre schwerer Arbeit zu Zeiten der Trockenheit mit einem einzigen Jahr des Überflusses belohnte. Es betrog das Volk, zwang es, Schafe und Ziegen zu züchten, die in schlechten Jahren zu ihrer Rettung wurden.
Im Lauf von Generationen wurden die Menschen der Hochebene immer ruheloser. Die Tiere verlangten mehr und mehr Weidefläche, weil das Land sie nicht genügend ernährte. Es waren diese ländlichen Niloten, die schließlich dem Befehl des Landes gehorchten und sich vor mehr als tausend Jahren nach Süden wandten.
Sie kamen um des Landes willen, aber andere waren vor ihnen eingetroffen – ein Volk aus dem Osten des Kongo, dem sie in der Nähe des großen Sees begegneten, den man später Viktoriasee nennen würde. Diese Bantu waren organisiert und aggressiv. Ihr Wohlstand erlaubte ihnen, große Armeen zu unterhalten. Die Niloten kannten sich mit der Kriegskunst wenig aus und konnten daher nicht gegen die Bantu bestehen. Es würde mehrere Jahrhunderte dauern, bis ihre Toten gerächt wurden.
Der Schild der Bantumacht lenkte die Südwärtsbewegung der Niloten in eine andere Richtung. Die Begegnung dieser Stämme sollte den Kontinent erschüttern und die nächsten zehn Jahrhunderte afrikanischer Geschichte formen.
Das äthiopische Hochland östlich des Nils war die traditionelle Heimat der Kushiten, eines Volkes mit brauner Haut, geraden Nasen und hohen Wangenknochen – eher mediterrane als afrikanische Züge. Weshalb sie ihr in Terrassen angelegtes Bauernland zurückließen und zu den feuchten Wäldern Ostafrikas zogen, ist unbekannt. Als die Niloten aus dem Westen kamen, vereinnahmten sie diese Nachbarn mit den feineren Zügen, aber nicht gewaltsam, sondern durch Heirat.
Die Geschichten aus diesen uralten Zeiten berichten von dem ersten Sohn der ersten solchen Ehe. Er hieß Maasinta und wuchs zu einem prächtigen jungen Mann heran. Er war hoch gewachsen wie sein Vater, der Nilote, und hatte lange, starke Muskeln, so fest wie Bogensehnen, an seiner schlanken Gestalt, aber auch das elegante, feinknochige Gesicht und die sanften, leicht mandelförmigen Augen seiner kushitischen Mutter. Seine Sprache, die er Maa nannte, und seine glänzende schwarze Haut stammten vom Nil, ebenso wie seine Haltung. Einige hätten ihn als distanziert, ja sogar arrogant beschrieben, aber so war es nicht. Maasintas Haltung spiegelte nur den Stolz wider, den er empfand, weil er der Sohn solch guter Eltern war.
Eines Tages, als Maasinta nach Essen suchte, erklang eine Stimme wie Donner aus dem wolkenlosen Himmel. »Maasinta!« Es war die Stimme des Schöpfers der Erde, des
Ngai,
des Gottes seiner kushitischen Verwandten. »Du musst zwischen dem heiligen Berg von Ol Doinyo Sabak und dem silbernen Gipfel des Kilima N’jaro einen großen Pferch bauen. Errichte ein Haus in seiner Mitte und warte auf meine Botschaft.«
Maasinta ging und tat, was man ihm gesagt hatte, und wartete auf weitere Anweisungen
Ngais.
Als
Ngai
zurückkehrte, sagte er zu Maasinta: »Morgen musst du dich sehr früh vor dein Haus stellen, denn ich werde dir ein Geschenk machen, das man Rinder nennt. Diese Tiere sind seltsam, aber fürchte dich nicht. Vor allem aber musst du still sein, bis du alle Rinder hast, die du willst.«
Sehr früh am nächsten Morgen kam Maasinta der Anweisung nach. Bald schon hörte er Donnergrollen, und Gott ließ eine lange Lederschnur vom Himmel zur Erde herab. Rinder stiegen an dieser Schnur entlang in den umzäunten Bereich. Der Boden bebte
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