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Die Tränen meines Vaters

Die Tränen meines Vaters

Titel: Die Tränen meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Updike
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einen Schlag versetzt hatte. Uralte Klageweisen hielten sie aufrecht. Die Art, wie sie ihr Leid ausdrückte, war so nackt, so rein, dass wir uns abwandten. Diese Szene in Marokko war nicht für unsere Augen und Ohren bestimmt. Als zwei Männer sie schließlich packten und an den Armen festhielten, brach sie ohnmächtig zusammen.

    Wir fanden das Klima, auf das wir gehofft hatten, in Agadir. Der Strand dort war breit, aber fast menschenleer, obwohl Sonne und Meer warm genug waren. Wir sahen uns nach anderen Feriengästen um, in deren Nähe wir uns niederlassen könnten, und weil wir keine entdeckten, breiteten wir unsere Handtücher nicht weit von der Strandmauer aus. Judith entfernte sich ein wenig von uns, staksig und perlweiß in ihrem Bikini, sammelte Muscheln auf und sah aufs Meer hinaus, abseits ihrer Eltern und Geschwister. Genevieve und Caleb begannen mit einer Sandburg. Mark legte sich zurück und konzentrierte sich mit finsterer Miene darauf, braun zu werden.
    Erst nach einer Weile fiel uns der Araber in langen Gewändern auf, der etwa dreißig Meter entfernt von uns lag, das Gesicht uns zugewandt. Sein Gesicht – dunkel, fünfeckig, sah unentwegt in unsere Richtung, starrte wie unter dem Druck eines stummen Schmerzes, einer angestauten Gier aus seinen zerkrumpelten Kleidern. Genevieve und Caleb wurden plötzlich still bei ihrem Burgenbau. Judith zog es wieder näher zu uns hin. Niemand von uns wagte zum einladenden Meeressaum zu gehen, über die Wüste aus Sand unterm stummen Schimmern der starrenden Augen des Arabers. Leise, damit die Kinder es nicht hörten, murmelte Mommy mir zu: «Sieh nicht hin, aber der Mann da masturbiert.»
    Er tat’s. Zwischen den Stofffalten. Zu Judith und uns gewandt.
    Ich stand mit zitternden Knien auf und organisierte unseren eiligen Rückzug vom Strand, und am Nachmittag ließen wir uns an einem privaten Pool nieder – Zutritt bloß ein Dirham –, wo alle Europäer schwammen und sich sonnten und sicher waren vor der einheimischen Kultur. An jedem unserer fünf Tage in Agadir gingen wir zum Pool. Die Sonne schien, und es gab nur wenig Wind. Wir hatten ein kleines Hotel gefunden, das von einem alten französischen Ehepaar geführt wurde; es war von Bougainvillea überwachsen, im Innenhof wohnte ein Papagei, und die Speisekarte war europäisch.
    Keine zehn Jahre zuvor, am 29. Februar 1960, waren bei einem Erdbeben in Agadir schätzungsweise zwölftausend Menschen umgekommen und große Teile der Stadt zerstört worden. Wir sahen keine Spuren davon. In Agadir vereinigten wir uns wieder mit der Mittelschicht. Wir hatten wieder Geld. Ich hatte meiner Bank in London telegraphiert, unddie Herren hatten eines ihrer geliebten britischen Übereinkommen mit einer Bank in Agadir getroffen. Das Bankgebäude hatte eine strenge Granitfassade – es war nach 1960 erbaut worden –, innen aber herrschte eher die Atmosphäre einer Viehauktion. Händler in Schäferkutten warteten brummelnd an einem langen chaotischen Tresen. Jedes Mal, wenn ein Geschäft sich dem Abschluss näherte, wurden laut Namen auf Arabisch ausgerufen. Als mein Name an der Reihe war, wurde offenbar auch der telegraphisch aus London überwiesene Geldbetrag lautstark mitgeteilt. Das Gebrummel verstummte. Verblüffte braunäugige Blicke flitzten den Tresen entlang in meine Richtung. Ich schwoll zu enormer Größe – ein Wundertier, eine Ausgeburt an Geld. Errötend wollte ich erklären, während ich die pastellfarbenen Scheine in meine abgeschabte Brieftasche stopfte: «Ich habe Kinder zu versorgen.»
    Genevieve fütterte gern die Hunde, die um unser Hotel strichen. Haustiere in fremden Ländern sind sonderbar. Allein der Gedanke, dass sie Französisch oder Arabisch besser verstehen als du. Und sie sehen auch nie ganz so aus wie amerikanische Tiere: eine andere Schrägstellung der Augen, eine andere Gangart. Auf den meisten unserer Dias, stellte sich heraus, waren diese Tiere zu sehen, allesamt leicht verwackelt. Die Kinder hatten die Nikon mit Beschlag belegt.

    Wir entkamen Agadir, Marokko, mit knapper Not. Auf einer basketballgroßen Erdkugel kann man mit der Breite eines Daumennagels die Strecke bemessen, die wir an jenem letzten Tag zurücklegten. Im Büro der Air Maroc sagte man uns, für sechs Personen sei kein Platz, auf keinem Flug von Agadir nach Tanger, wo wir für diese Nacht Hotelzimmer hatten undFlugreservierungen nach Paris für den nächsten Morgen. Es half alles nichts, wir mussten fahren, die Strecke,

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