1051 - Als Verfluchte grüßen...
Die Haustür war nie ver- oder geschlossen. Wie immer, so hing sie auch heute schief in den Angeln. Ohne den schwankenden Lauf großartig zu stoppen, rammte die Frau ihre rechte Schulter gegen die Tür, die hart nach innen gestoßen wurde und dabei gegen ein Hindernis prallte, das plötzlich aufschrie. Ein bekiffter Typ hatte zu nahe an der Tür seinen Platz gehabt. Er war von ihr aus seiner sitzenden Haltung zu Boden gestoßen worden, fluchte wie wild und hielt sich seinen Kopf.
Ida bedachte ihn mit einem nur knappen Blick. Sie kannte den Knaben nicht, der bleich und ausgemergelt war. Er fing an zu heulen, während Ida an ihm vorbeilief.
Es gab keinen Aufzug! Man mußte zu Fuß hoch in die oberen Etagen. Ida Cobin wohnte in der dritten. Hier war es egal, wo man lebte. Jedes Stockwerk sah sowieso gleich aus.
Lang, düster, schmutzig, mit verschmierten Wänden. Ebenso verschmiert wie das Geländer, an dem sich die Frau festklammerte. Die Treppen zu nehmen, erwies sich für sie als eine Tortur. Sie konnte nicht einmal fluchen, das Stechen in ihrer Lunge nahm zu. Sie ging nicht hoch, sie schleppte sich nur nach oben. Wenn sie einatmete, dann hatte sie das Gefühl, dicht vor dem Platzen zu stehen.
Sie kämpfte sich weiter. Stufe für Stufe. Der Gedanke an Sammy gab ihr die nötige Kraft, auch den letzten Absatz zu schaffen.
Im Flur blieb die Frau stehen. Ida konnte nicht mehr gehen. Sie mußte eine Pause einlegen. An der Wand stützte sie sich ab. Sie war so erschöpft, daß die Schmierereien vor ihren Augen zerfaserten.
Das auch, weil sich die gesamte Umgebung zu drehen schien. Sie weinte, sie atmete röchelnd und keuchend zugleich. Ihr Brustkorb schmerzte. Ihre Beine wollten nachgeben. Für sie war es ein Wunder, daß sie sich noch auf den Füßen halten konnte.
Ihr Kopf glich einem Ballon. Er war viel dicker geworden. In ihm rauschte es. An den Schläfen spürte sie die Schmerzen. Die Tür lag noch weiter entfernt. Etwa die Hälfte des Flurs mußte sie durchlaufen, um sie zu erreichen.
Ida ging. Sie mußte gehen. Nicht in der Mitte des Flurs. Sie hielt sich an der Wand fest.
Jemand kam ihr entgegen. Sie erkannte nicht einmal, ob die Person eine Frau oder ein Mann war. Ihr Blick hatte seine Klarheit verloren.
Es war nur mehr der letzte Weg, die paar Meter.
Die packe ich! hämmerte sie sich ein. Verdammt noch mal, die packe ich! Die Füße schleiften über den schmutzigen Boden. Immer wieder kratzten ihre Hände auch über die Außenseiten der Wohnungstüren hinweg, die bündig mit der Wand abschlossen.
Ida hatte es gelernt, zu kämpfen. Im Dschungel der Großstadt zu überleben. Im Gegensatz zu vielen anderen Menschen in einer ähnlichen Lage wußte sie, wofür sie kämpfte und all die Mühen auf sich nahm. Es ging um ihren Sohn, um Sammy. Er war alles in ihrem Leben. Nur für ihn schuftete sie sich ab.
Es ging ihr etwas besser. Die Erschöpfung ließ nach. Die alte Kraft kehrte zurück. Wieder einmal war sie stolz auf ihre Zähigkeit. Bisher hatte sie Ida vor dem endgültigen Absturz ins Elend bewahrt, und sie wollte auch jetzt nicht aufgeben.
Allmählich sah sie besser. Die Nebel der Erschöpfung waren verschwunden. Die glatte Decke wellte sich nicht mehr. Sie war sogar in der Lage, die Schmierereien unter ihr zu sehen.
Noch drei Türen.
Kein Problem mehr.
Trotzdem kam eines hinzu. Auf einmal war dieser verdammte Druck wieder da. Unsichtbar klemmte er um ihre Brust. Ida Cobin kannte das Gefühl. Es war die Angst. Die reine, kalte Angst, die sie in den Klauen hielt. Eine verfluchte Vorahnung, daß nicht alles so gelaufen war, wie sie es sich vorgestellt hatte.
Sie sprach den Namen ihres Sohnes aus. Keine normale Stimme mehr. Es war nur ein Keuchen, ein Hervorbringen der einzelnen Buchstaben, die kaum in einem Zusammenhang miteinander standen.
Ida brauchte sich nicht mehr abzustützen, als sie die Tür ihrer Wohnung erreicht hatte. Sie stand davor. Leicht schwankte sie.
Starrte auf die schmutzige Außenseite. Die Türen hier im Haus waren früher mal grüngrau gestrichen worden. Davon war nichts mehr zu sehen. Die meiste Farbe war abgeblättert, so daß der Untergrund durchschimmerte. Oft waren die Türen auch besprayt worden. Ihre hatte man verschont. Ida wußte den Grund auch nicht.
Sie holte tief Luft. Sie schloß für einen Moment die Augen. Dann spürte sie die Angst wieder stärker. Sie hörte und sah nichts, und genau das ließ sie flattern.
Die Tür der Wohnung war nicht verschlossen. Zwei
Weitere Kostenlose Bücher