Die Ueberlebende
Kerze an. Mein Nachthemd ist von Schweià durchtränkt. Ich streife es ab und stelle mich unter die Dusche. Das kühle Wasser verschafft mir augenblicklich Erfrischung. Unwillkürlich nehme ich jede meiner beiden inzwischen etwas erschlafften, fünfundvierzig Jahre alten Brüste in die Hand und taste sie nach Knoten und Schwellungen ab. Nichts. Aber meine sorgenvollen Gedanken zerstreut das nicht. Sind wir dabei, eine Vierzehnjährige in ein Netz von Schuld zu verstricken? Oder könnte sie tatsächlich dreizehn Menschen auf einmal umgebracht haben? Sie waren alle vergiftet worden, über ein paar von ihnen war man mit dem Messer hergefallen, und bei anderen wiederum war der halbherzige Versuch unternommen worden, sie zu verbrennen. Hätte es nicht geregnet, wäre möglicherweise das ganze Haus in Flammen aufgegangen.
Und sie war vergewaltigt worden. Oder doch nicht? Spielt mein gesundes Urteilsvermögen mir einen üblen Streich, oder lasse ich mich von jener Art Küchen-Psychologie leiten, die weibliche Sexualität bei Minderjährigen gleich als Verbrechen brandmarkt? Das Lolita-Syndrom. Das erinnert mich auf unangenehme Weise an einen anderen Fall, über den ich ebenfalls heute, doch bereits früher am Tag, gelesen hatte und der mir vermutlich doch mehr unter die Haut gegangen ist, als ich wahrhaben wollte. Das Internet mag dafür gesorgt haben, dass die Welt ein ganzes Stück kleiner geworden ist, aber es hat sie auch blutiger werden lassen und unser Vertrauen in sie erschüttert. Während ich in der Vergangenheit jeden Fall als für sich einmalig betrachtet habe, weià ich nun, dass ich dort immer etwas finden kann, das im Vergleich noch blutrünstiger ist als das, womit ich mich gerade befasse, oder doch zumindest etwas, das mir einen Schimmer von Verständnis verschaffen könnte. Während andere Menschen das Internet nach Seelenverwandten abgrasen, gehe ich online, um nach verdrehten Hirnen und elenden Leben zu suchen. Und hoffentlich ein wenig Einsicht darin, warum sie zu dem wurden, was sie sind.
In diesem zweiten Fall war es um ein junges Mädchen namens Billie Joe gegangen, die in der englischen Stadt Hastings eines gewaltsamen Todes gestorben war. Als Tatverdächtigen hatte man ihren Adoptivvater festgenommen. Billie Joe war mit einem Messer niedergestochen worden, als sie gerade die Haustür anstrich. Einige der zu dem Mord befragten Bekannten des Mädchens hatten angedeutet, dass sich die junge Frau ihrer weiblichen Anziehungskraft durchaus bewusst war und diese benutzt hatte, um ihren Stiefvater, einen Schuldirektor, und die anderen männlichen Lehrer an ihrer Schule zu manipulieren. Weiterhin gab es versteckte Hinweise auf eine heimliche Affäre und darauf, dass der Stiefvater seine Gelüste â und später dann seine Wut â nicht hatte im Zaum halten können; doch man schloss auch nicht aus, dass er von seiner Adoptivtochter erpresst worden war. Letzten Endes wurde er jedenfalls freigesprochen. Ein klares Beispiel dafür, dass die naheliegendste Erklärung nicht immer die richtige ist.
Genau diese naheliegendste Erklärung ist es, vor der ich auf der Hut sein muss. Während ich im Geiste die verschiedenen Möglichkeiten durchgehe, wird mir immer klarer, wie sehr Durgas Fall mich fasziniert. Allein schon der Name scheint so passend â Durga, die feurige, vielarmige Göttin, deren Neigung zu BlutvergieÃen und Zerstörung die Mythen beflügelt, die sich um sie ranken. Jene Durga, die ich im überfüllten Gefängnis von Jullundur vorfand, kam mir jedoch vor allem schrecklich unsicher und geistesabwesend vor. Gestern sind wir uns zum ersten Mal begegnet, und ich fand zuerst überhaupt keinen Zugang zu ihr.
Natürlich â das ist ganz offensichtlich â trennen uns Welten voneinander. Ich hatte Jullundur, einer staubigen, wie planlos aus dem Boden gestampft wirkenden Provinzstadt â, eigentlich mehr ein Dorf mit Hang zum Höheren â, den Rücken gekehrt, als ich zwanzig Jahre alt war. Das war ein Verstoà gegen sämtliche guten Sitten, an dem nicht nur das Herz meiner Mutter zerbrach, sondern auch meine Verlobung mit einem jungen Mann, dem eine sehr vielversprechende Karriere in der Miederwarenbranche in Aussicht stand. Da überall um mich herum Mädchen verheiratet wurden, war auch ich davon ausgegangen, dass mir gar keine andere Wahl bliebe, obwohl ich bereits
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