Die Ueberlebende
1. KAPITEL
9. September 2007
Du hast mir gesagt, ich soll aufschreiben, was mir in den Sinn kommt. Aber in meinem Kopf sind zu viele Fragen, zu viele ängstliche Gedanken. Ich muss erst all diese Zweifel loswerden â nur dann kann ich überhaupt wieder richtig denken. Du verstehst nicht, wie schlimm das ist. Niemand versteht das.
Wie entgeht man der Tyrannei seiner Träume? Den Schritten, die einen immer wieder zu einem Haus voller Geister zurückführen, in dem einen aus jedem Fenster ein Gesicht anstarrt, und jedes einzelne von ihnen ist einmal geliebt, einmal vertraut gewesen; aber nun haben diese Gesichter blutunterlaufene Augen und blutleere Lippen, ihre Körper sind gebrochen, die GliedmaÃen hängen schlaff hinunter â und doch sind sie immer noch von Sehnsucht nach Leben erfüllt. Aber sie schweigen, allesamt. Die zähe Galle des Kummers, die aus ihren Herzen flieÃt, ist in ihre Kehlen geronnen und hat ihre Stimmen erstickt. Ihr mattes, fahles Haar lässt einen an Seegras denken; es ist grünlich, flechsig, wird leicht vom Wind verweht. Doch überall um ihre zusammengesunkenen Leiber herum schwebt der scharlachrote Geruch von frischem Tod; das Fleisch an ihren FüÃen ist soeben erst für die Hunde geschnetzelt worden, aber die Hunde verhalten sich ganz sonderbar; sie kläffen gar nicht, sie stupsen das Fleisch nicht einmal mit den Nasen an. Ob sie merken, wessen Fleisch es ist? Aber woher sollten sie das wissen? Riecht Menschenfleisch irgendwie anders? Ist bei Tieren irgendwo tief in ihrer DNA etwas verborgen, eine Art Treue-Gen, das es ihnen ermöglicht, diese Unterschiede zu erkennen? Nichts in diesem Haus ist so, wie es sein sollte, denn nun macht sich noch ein anderer Geruch bemerkbar, der in jede Ritze dringt â der Geruch verbrennenden Fleisches. Das Haus ist ein Shamshan Ghat , eine Verbrennungsstätte für Leichen, und nur die Blumen müssen noch zusammengekehrt werden â so nennt man Knochen, wenn sie zu Asche zerfallen sind, sie werden dann zu weiÃen Blüten.
All diese Gesichter an den Fenstern, liebkost von meinen Händen und geküsst von meinen Lippen, werden nun, da sie zu weiÃen Blüten geworden sind, in Urnen aus Ton gefüllt und im Ganges versenkt werden. Aus dem schlammigen Wasser, das nichts, was es je verschlungen hat, wieder hergibt, werden Blasen aufsteigen und mit gierigen Fingern nach jeder Urne greifen, sie mir aus meinen hilflosen Händen reiÃen, um sie mit sich fortzuzerren. Ich werde dreizehn Gebete für jede der Urnen sprechen, dreizehn Mal vor mich hin murmeln, was man mich zu sagen gelehrt hat.
Wenn ich mir das Haus anschaue, sehe ich es im Wind schwanken â¦
Es regnet. Ich liebe den Regen. Ich stehe vollkommen bewegungslos im Garten, lasse mich von der immer fester werdenden Umarmung der Nacht umfangen und die Regentropfen wie winzige Schläge auf meine Haut prasseln. Ich möchte am ganzen Körper von ihnen berührt werden, möchte, dass meine Tränen sich mit dem unablässigen Niederschlag vermischen, bis ich nicht mehr zwischen Tränen und Regen unterscheiden kann, bis ich alles in mir aufgenommen habe, den Regen, die Wolken, den Wind, und ich von all jenen Tröpfchen geprügelt worden bin, bis meine Gefühle stumpf und meine Augen blind geworden sind, wenn ich sie zum freien Himmel hebe, so dass ich weder das Haus noch die in all ihrem Liebreiz doch so unerbittlichen Gesichter in seinen Fenstern mehr erkennen kann. Ich würde so gerne vor ihnen davonlaufen, wenn ich nur könnte, doch wohin soll ich gehen?
Ich wende mich ab und renne die LandstraÃe hinunter, nehme mir eine Rikscha, lasse mich von ihr zum Bahnhof fahren und steige in den Zug nach Delhi, wie man es mir aufgetragen hat. Doch irgendetwas hält mich zurück. Ist es das Blut, das auf den weiÃen Marmorstufen gerinnt? Ich kehre um und versuche, in der Kälte des Regens zitternd, mit seinem Wasser meine FuÃabdrücke wegzuwischen, aber es kommt immer neues Blut aus dem Haus geflossen, und die FuÃabdrücke kommen immer wieder zum Vorschein, deutlich und unverwechselbar. Unwillkürlich weiche ich ein wenig zurück, denn es geht mir langsam auf, dass dieses Haus, das so hoch vor mir aufragt, für die Ewigkeit bestimmt ist, gerade so, als wäre es schon zu Beginn der Schöpfung erschaffen worden, um für immer und ewig fortzubestehen. Und aus jedem der Fenster, die ich
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