Die Uhr der Skythen (German Edition)
absonderlichen Prägung, die er besitzt, seit er mit dem Finger das Zentrum der Zauberuhr gedrückt und sie somit in Gang gesetzt hat.
»Ist mir egal«, sagt er, holt sich etwas zu lesen und zu schreiben und richtet sich auf der Terrasse ein. Es wird ihm nichts zuregnen, nichts wegkommen. Dieser Tage wird er sich andere Bücher ausleihen, aus der fundiertesten Bibliothek des Rheiderlandes, bei seinem alten Lehrer Hamelmann.
Fokko van Steens Zeit vergeht, ohne sich von der Stelle zu rühren.
Tag und Nacht gibt es, wie ihm scheint, schon lange nicht mehr, dennoch notiert er jedes Mal, wenn er für länger geschlafen hat, im Kassenbuch des Vaters den mutmaßlichen Tag, aber dieses Unterfangen kommt ihm zunehmend aussichtslos vor, und er beginnt alsbald, von den spärlichen Ereignisse und wechselnden Befindlichkeiten zu schreiben, daß es ihm manchmal Freude macht, im Haus und im Garten zu kramen, manchmal hingegen fühlt er eine große Sinnlosigkeit, auf die Tulpen hinter dem Schuppen zu warten, den Küchentisch aufzupolieren oder Brennholz umzuschichten.
Er fährt nach Critzum, ohne irgendeine Regelmäßigkeit begreifen zu können, wacht häufig an Merreths Seite, schläft auf dem Sofa gelegentlich ein, ohne es in seinem Kalendarium zu notieren, denkt immer wieder an die einzige Möglichkeit, sie zum Leben zu erwecken, aber eben das will er unbedingt nicht. Nicht bei Merreth, eher schon bei Eva, um sich zu erleichtern und sie zu demütigen, ihr die Meinung zu sagen, ehe er sie in den seltsamen Schlaf zurücksinken läßt. Aber das ist nichts anderes als eine krude Phantasie.
Irgendwann dringt er in Jemgum in Hamelmanns Villa ein, öffnet ein angelehntes Fenster, klettert in die Bibliothek des Lehrers, den er mit dem Kopf in einem Folianten versunken an seinem Schreibtisch eingeschlafen findet wie tot, sucht überall nach Büchern über das Goldene Zeitalter der niederländischen Malerei und leiht sich zuletzt drei Bände aus, die er rechtzeitig vor der Rückkehr der Zeit zurückzubringen verspricht.
An diesem einen Tag, da er die unbewegliche Zeit dadurch einzuschüchtern sucht, indem er in Kisten und Kästen gründelt, in Schränken und Regalen stöbert, als wäre es möglich, einen Gegenzauber zu entdecken, findet er in der untersten Schublade des Sekretärs den Fotoapparat des Vaters, als wäre es zum ersten Mal. Das bringt ihn auf einen Gedanken. Unter dem Zeitstillstand wird er in aller Ruhe fotografieren können: ungestellte Porträts, ewigwährende Schnappschüsse und eiserne Stilleben. Er bewegt sich ja gewissermaßen in einer fotografierten Welt, müßte nur mit der Kamera umherschwärmen, um so die besten Motive zu finden. Er weiß, wo in der Jemgumer Drogerie die schwarzweißen Filme liegen, so kauft er sich ein Dutzend und macht sich auf die Suche nach dem Glück in Merreths und dem Schrecken in Evas Antlitz, erwischt ein Binnenschiff am Hatzumer Sand in jenem schönen Moment, da sich eine perfekte Dünung auf die Bordwand schreibt, und die Zeit, die jedem Fotografen für gewöhnlich widerspenstig, feindselig daherkommt, wird ihm zu einem gezähmten Element: nichts kann ihm entrinnen, und am Ende, wenn die Zeit sich wiedergefunden hat und er die Hunderte von Fotografien hat entwickeln lassen, werden sie allesamt in derselben Sekunde geschossen worden sein.
So ist er an diesem immerwährenden Frühlingsabend oft mit der Kamera unterwegs, und die Fotografien geraten ihm ein wenig nach den wechselnden Stimmungen. Die Stille gibt ihm Zeit zum Nachdenken, das einsame Leben schenkt ihm einen eigenen Rhythmus, er fühlt sich nach einiger Zeit kräftig und erholt und entdeckt in sich eine erstaunlich stabile Grundbefindlichkeit, die er aus der frühen Kindheit zu erinnern meint.
»Ich kann«, sagt er sich, »die Dinge ohne jede Hast erledigen und jede Sache an ihr Ende denken.«
In anderen Phasen hingegen bedrängen ihn ungeheuerliche Zweifel, es kommt ihm vor, als spazierte er lediglich durch das Abbild einer stehengebliebenen Welt, und in Wirklichkeit läge er von einem Ausleger des Karussells getroffen im Koma und das Leben der anderen liefe in einer absolut entfernten Bewußtseinsebene weiter: Schwammheimer ist seit langem völlig unspektakulär im Ditzumer Hafenbecken ertrunken, Fox hat vergeblich versucht, ihn rauszuziehen, besucht den alten Freund an jedem Wochenende im Emdener Krankenhaus und Merreth Winterboer hat ausreichend getrauert und inzwischen einen neuen Freund.
In Wirklichkeit hält
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