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Die Uhr der Skythen (German Edition)

Die Uhr der Skythen (German Edition)

Titel: Die Uhr der Skythen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alfred Cordes
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die winzige Leibesfrucht jetzt zu wachsen innegehalten hat? Die Verzweiflung schleicht um ihn herum wie ein hungriger Wolf, der darauf wartet, daß man einschläft oder stolpert.
    Das Kassenbuch verstaut er im Rucksack, als wäre es eine Schatzkarte, packt ein schmales Buch über niederländische Malerei dazu, sucht alles Kleingeld zusammen und steckt es in die Hosentasche. Draußen steht Frau Freesemann mit ihrem Huhn. Fokko steigt auf sein Rad, denkt, er muß Merreth, falls sie doch noch nicht in Critzum ist, erreichen, bevor es dunkel wird, aber das, fällt ihm sofort ein, ist eine lächerliche Sorge. Was wäre gewesen, wenn es im Moment des Zeitstillstandes Bindfäden geregnet hätte? Was bei Schnee oder Nebel? Er spürt, der Forscherdrang, die Geheimnisse der Uhr zu ergründen, schwindet. Da geht es ihm wie Sparenberg, er will nichts weiter, als aus dem Zauber möglichst bald entlassen werden.
    Am Ditzumer Hafen hat sich seit gestern nichts auch nur um einen Millimeter bewegt. Eva steht in ihrem Pünktchenkleid am Anleger und hat gerade eben gerufen: ›Jakob kann nicht schwimmen!‹. Fokko überlegt, er könnte sich mit ihr vereinigen, nur um ihre Gesellschaft zu haben, ein Wort zu reden. Das wäre freilich eine spezielle Art der Vergewaltigung, das würde er bei Merreth beileibe nicht versuchen, obschon er die Zärtlichkeit eines Wortes, einer Berührung bereits jetzt schmerzlich vermißt.
    »Seit gestern?« fragt er.
    Jegliches Zeitmaß hat sich in der Sekunde des Stillstandes aufgelöst wie ein Tropfen von Hinrichs Tee im Ditzumer Hafenbecken. Es ist für immer Samstagabend, und kein Bäcker im Rheiderland wird mehr geöffnet haben. Da fällt ihm der Supermarkt an der Pogumer Straße ein. Er radelt hin und trifft auf ein hell erleuchtetes, begehbares Küchenstück der besonderen Art, ein riesenhaftes Objekt konzeptioneller Kunst, der Konsumtempel der Moderne, bevölkert mit einem hyperrealistischen Personal aus Polyester, und die übliche biblische Szene im Hintergrund wäre wohl die Schlange vor der Bäckertheke, verstanden als ein Part aus der Wunderbaren Brotvermehrung.
    Auf nichts mehr muß er warten. Geht an der Schlange vorbei, sucht zwei Brötchen aus, notiert den Preis auf der Tüte, nimmt sich ein Stück Butter und eine Flasche Kakao und geht zum Ausgang. Drei Kassen sind besetzt. In einer göffneten Geldlade kann er seine Schulden ohne weiteres begleichen, aber die Ware würde nicht verbucht. Eine Kassiererin hat ihre Kasse im Moment geschlossen und begrüßt eben mit einem Lächeln die nächste Kundin. Da will er zwischen, muß der jungen Frau recht nahe kommen, glaubt sogar den Hauch eines Parfüms zu wittern, nimmt ihr den Scanner aus der Hand und registriert die Butter und den Kakao. Es piept zweimal ungewöhnlich laut. Fokko findet eine Taste mit einem Brotsymbol, drückt sie, gibt den Betrag für die beiden Brötchen ein und zieht die Summe. Zwei Euro und fünfundvierzig Cent. Die Geldlade hat sich geöffnet, er wechselt seinen größten Geldschein beim Bezahlen in kleine Scheine und ein paar Münzen, dann schließt er die Kasse und verläßt den Supermarkt.
    »Es hat funktioniert.«
    Für den Augenblick, da er sie berührt hat, hat sich die Kasse dem Zeitstillstand entziehen können. Genauso wird er wohl ein Auto fahren, eine Kaffeemaschine in Gang setzen und Hinrichs Fähre bewegen können. Er schiebt sein Rad durch das Dorf, schaut gelegentlich ungeniert in ein Fenster, in einen Innenhof, nähert sich den Passanten auf so distanzlose Weise, wie er es normalerweise niemals wagen würde, und als er auf der Landstraße nach Critzum den Linienbus überholt, wird ihm erst einige hundert Meter weiter bewußt, wie gefährlich das gewesen ist. Wenn die Uhr eines Tages abläuft und die Zeit wieder in Gang kommt, wird der Busfahrer von einer nicht wahrzunehmenden Sekunde auf die andere vor sich auf der Straße einen Radfahrer erkennen, den er noch im selben Moment überrollen wird. Er kam aus dem Nichts, wird er unter Schock immer wieder stammeln, und Merreth wird in ihrem tiefen Kummer niemals begreifen, wie ihr Liebster auf der Nendorperstraße von einem Bus zerschmettert werden konnte, während er gleichzeitig in der Fischbude auf den Feierabend und seine Freundin wartete.
    Es ist nicht eben ungefährlich, sich in der gemütlichen Welt der Zeitlosigkeit einzurichten. In Nendorp verläßt er die Landstraße und sucht durch den vom Donner gerührte Ort den Weg zum Fluß hinauf, um über den

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