Die Uhr der Skythen (German Edition)
Seezeichen, und der Regen fällt in schräger Schraffur auf die Kreuzigungsgruppe am Giebel der Kleinen Kirche. Das Gefühl vollkommener Verlassenheit ließe Fokko van Steen gewiß binnen kurzem verenden, gäbe nicht just in diesem Augenblick die Seitenpforte des Doms dem Gewicht seines Körpers nach. So stiehlt er sich ins Innere der Kirche, schwankt durch das spärliche Licht ein paar Stufen hinab und hockt sich im tiefen Schatten eines Seitenschiffes auf eine Bank.
Den Rucksack stellt er auf die Seite, zieht den Parka aus und breitet ihn über das Brett, auf das sich für gewöhnlich die Gläubigen stützen, um für die Vergebung ihrer Sünden zu beten. Die Schuhe stellt er neben den Rucksack, die Strümpfe hängt er über einen Haken an der Rückenlehne der vorderen Bank, zieht die Beine an den Körper, umspannt sie mit den Armen und beginnt, sich die Füße zu massieren. Wie ein froststarrer Marabu hockt er da, schaut mit einem Auge nach den Lichtfeldern zwischen den mächtigen Pfeilern und horcht in den unermeßlichen Raum. Was er hört, sind allein die Tropfen, die aus seinen Sachen auf den geweihten Boden fallen.
In den Jahren, die er in der Stadt lebt, ist er nie im Dom gewesen, hat ihn bloß als einen Orientierungspunkt in der Mitte des Ortes begriffen, als adäquates Dekorationsstück im Ensemble der Altstadt: wie das Schloß der Fürstbischöfe seit zweieinhalb Jahrhunderten nachweisbar ist, aber eigentlich längst unhistorisch geworden, ein Versatzstück, in das Studenten ein- und ausgehen, und ein paar Touristen schießen Fotos, die sie sich nie im Leben anschauen werden.
Ein Zeitalter des Atheismus ist vergangen, seit Fokko das letzte Mal einen Gottesdienst besucht hat, zur Entlassung aus der Schule in einer reformierten Gemeinde, der Pastor hatte zum Gleichnis vom verlorenen Sohn gepredigt, ein völlig mißratenes Plädoyer zur bedingungslosen Vergebung gescheiterter Lebenswege, noch ehe die Töchter und Söhne ihre Familien überhaupt verlassen hatten. Am Ende seiner Ausführungen hatte er sich so verheddert, daß er nur noch ein paar Scherben seiner rhetorischen Vergangenheit aus dem katechetischen Hut hervorkramen und sich zu guter Letzt in das bedeutungsvolle Wort Amen hatte retten können. Gott setzt keinen Fuß in eine Kirche, hatte sein Freund Fox damals gesagt, hatte sich in dem viel zu weiten Anzug seines verstorbenen Vaters auf die Bank im Schatten der Eiche gesetzt, als wäre im Anschluß an die Entlaßfeier noch eine Beerdigung angesetzt, der Lehrer Hamelmann, den sie geliebt hatten wie einen Vater, er beschwor ihn vergeblich, und es muß ihm weh getan haben, als Fox ihm sagte, er sei jetzt nicht mehr für ihn zuständig.
Wie klar er diese Bilder vor Augen hat. Der Freund auf der Bank unter der Eiche. Der alte Hamelmann in seinem grauen, im Küstenwind flatternden Anzug, in dem er nachweislich geboren worden war, wie er versucht, einen Schüler, den er schätzt und im Moment für alle Zukunft verloren hat, von etwas zu überzeugen, an das er selbst nicht mehr glaubt: Pädagogenschicksal.
Die Viertelstundenglocke schlägt dreimal an. Diffuse Geräusche dringen zu ihm her, das Öffnen einer schweren Tür, ein Gescharre von Füßen auf dem Steinboden, darüber für einen Atemzug ein silberhelles Glockenspiel, kurz darauf bemerkt er Bewegungen in einem der Lichtfelder, ein Priester und sein Meßdiener ziehen liturgischen Schrittes die Stufen zum Altar empor, ehe sie ihn aber erreichen, sind sie hinter einer der mächtigen Säulen verschwunden.
Mit der Körperwärme kehrt die Erinnerung zurück: als wäre sie in der Nacht lediglich eingefroren gewesen, um ihre Haltbarkeit zu verlängern. Das erste, was ihm in den Kopf kommt, ist ein starres Bild, ein Standfoto aus einem schlechten Film gewissermaßen, und ehe er noch richtig begreift, was alles auf dem Dia zu sehen ist, das ihm vor dem inneren Auge klebt, spürt er schon die dazugehörigen Gefühle wie eine Entzündung im unteren Bauchraum, wo sich just die Metastasen Wut und Trauer und Scham und Hilflosigkeit auf den Weg durch den auftauenden Organismus machen: hinauf ins Hirn, hinein ins Herz.
Ein metallisches Knacken ist zu hören. Fokko schaut die Halbsäule hinauf, unter der er sitzt. Unter einem Blattkapitell klebt wie ein Nistkasten ein Lautsprecher, aus dem jetzt die Stimme des Priesters Gebete daherschnarrt, als wären es die Durchsagen auf einem Bahnsteig.
Der Kopf ist ihm bleischwer. Er senkt ihn auf die Knie und schließt
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