Die Unschuld der Rose
Grace hatte Schuld und Reue zeigen müssen. Wobei sie allerdings aufrichtig gewirkt hatte.
Tatsächlich war sie sehr überzeugend. Hätte er es nicht besser gewusst, würde er ihr die Bestürzung fast abnehmen. Ihre schockierten Antworten und die wirklich bemerkenswerte Zurschaustellung von Gewissensbissen hätten ihn beinahe dazu verleitet, ihr Trost und Unterstützung anzubieten.
Um auszuschließen, dass er sich geirrt hatte, war er sogar noch einmal alle Fakten im Kopf durchgegangen. Gab es eine Möglichkeit, dass sie unschuldig an dem Betrug war?
Nein, auf keinen Fall. Sie konnte jederzeit auf die Konten zugreifen. Sie kannte die Umsatzzahlen der Firma. Die Bücher wurden von ihrem Vater geführt.
Rafael blickte über die Schulter und war überrascht, Grace unmittelbar hinter sich zu sehen. Er ging schnell, aber sie hielt mit ihm Schritt.
Und dann sah er die Emotionen in ihren Augen. Sie nahm die Umgebung überhaupt nicht wahr.
Waren es Wut und Frustration? Wahrscheinlich. Schließlich war ihr falsches Spiel aufgeflogen.
Er zweifelte nicht daran, dass sie auf der fazenda die Reumütige nur gespielt hatte. Warum war er trotzdem beeindruckt? Wusste er nicht, besser als jeder andere, zu welch Höchstformen eine Frau auflaufen konnte, wenn man sie in die Enge trieb?
Stirnrunzelnd konzentrierte er sich wieder auf den Pfad vor sich.
Ein Hubschrauber würde Grace morgen nach Rio de Janeiro bringen, damit sie ihren Linienflug nach London erreichte.
Als sie am Haus ankamen, wandte Rafael sich zu ihr um. „In zwei Stunden gibt es Abendessen. Ich nehme an, du willst dich bis dahin ausruhen.“
Sie schien seine Worte nicht gehört zu haben, weshalb er sie wiederholte. Dieses Mal sah sie ihn so erschrocken an, als hätte sie seine Existenz völlig vergessen. Grace blinzelte und zwang sich offensichtlich, sich auf die Situation zu konzentrieren.
„Ja, vielen Dank.“
Ihm fiel auf, wie blass sie aussah. Außerdem hatte sie dunkle Ringe unter den Augen. Sie sah mitgenommen aus. Erschöpft. Sie waren viele Meilen unter anstrengenden Bedingungen gewandert, und sie hatte sich nicht einmal beklagt.
„Du brauchst eine Dusche und musst dich hinlegen.“ Noch während er sprach, wunderte er sich, warum er solche Besorgnis zeigte. Anscheinend fragte sie sich dasselbe, denn sie musterte ihn überrascht.
„Es tut mir leid, dir mit einer zweiten Übernachtung Unannehmlichkeiten zu bereiten.“
Ihr Tonfall ähnelte dem eines Kindes, das frühzeitig eine Party verlässt. Plötzlich wünschte Rafael, sie würde ihm lieber so kämpferisch entgegentreten wie auf dem Hinweg zur fazenda.
Diese Frau war voller Widersprüche. Sie einzuschätzen, wurde fast unmöglich. Sie legte eine seltsame Mischung aus Humor und Ernsthaftigkeit an den Tag. Unschuld vermischte sich mit einer faszinierenden Erotik, deren Grace sich gar nicht bewusst zu sein schien. Sie flirtete nicht mit ihm. Und doch war jede Bewegung ihres Körpers verführerisch.
Vögel, bunt wie ein Regenbogen, flogen über das gläserne Dach des Eingangsbereichs hinweg. Dieses Mal löste der Anblick keine Freude bei ihr aus. Grace schien die Tiere nicht einmal zu bemerken.
Rafael kam es so vor, als stünde sie unter Schock.
„Wir sehen uns beim Abendessen.“ Bis zu diesem Moment hatte er gar nicht die Absicht gehabt, mit ihr zu essen.
Warum wollte er noch einen Abend mit ihr verbringen? Er sollte doch erleichtert sein, dass ihre schmutzigen Geschäfte aufgeflogen waren, und sie einfach stehen lassen. Morgen früh wäre sie für immer aus seinem Leben verschwunden.
Allerdings würde es nicht leicht werden, sie zu vergessen. In jenem Kuss im Regenwald hatte mehr gelegen als die Lust zweier Erwachsener. Viel mehr.
Selbst jetzt noch spürte er es, eine unsichtbare Kraft, die sie miteinander verband. Grace musste es auch wahrgenommen haben, denn sie machte eine nervöse Geste und wich zurück.
„Vielleicht sollte ich alleine in meinem Zimmer essen. Trotzdem wäre ich dankbar, wenn ich ein Telefon benutzen könnte.“
„Es gibt einen Apparat in deinem Zimmer. Aber du wirst mit mir zusammen zu Abend essen.“
Sie entgegnete nichts. Irritiert überlegte Rafael, ob sie nur einfach zu müde zum Streiten war. Irgendwie wirkte sie … besiegt?
Und das ist gut so, dachte er und rieb sich den Nacken, um sich daran zu hindern, sie zu berühren. Wenn ihr Bedau ern und ihre Reue aufrichtig waren, würde es sie vielleicht davon abhalten, noch einmal jemanden zu
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