Die unsichtbare Handschrift
bleiben kann.«
»Warum kannst du nicht länger bleiben?«
»Ich konnte nicht länger Urlaub nehmen. Nächste Woche haben wir eine Veranstaltung im Archiv, die ich vorbereiten und durchführen muss. Leider.«
»Ich habe gehört, dass einige von euch ihre Freizeit damit verbringen, den alten Kram zu waschen. Ganz ehrlich, ich kapiere nicht, dass du extra dafür Urlaub genommen hast. Lohnt sich das alles überhaupt? Kannst du mit der Zeit nichts Besseres anfangen?«
»Ob sich das lohnt? Du redest wie diese eine Journalistin, die immerzu darauf pocht, wie viel das alles kostet und wie viele Brunnen von dem Geld in Afrika gebaut werden könnten.« Sie zog missbilligend eine Augenbraue hoch. »Ich kann mir keine spannendere Art vorstellen, meine Zeit zu verbringen.« Sie machte eine Pause und erzählte dann: »Im April 2009 , also ziemlich kurz nach dem Einsturz, haben viele Institutionen Hilfe geleistet, indem sie Fachleute geschickt haben. Das Archiv in Lübeck hat mich sozusagen ausgeliehen. Damals wurden mir die Tage hier als Arbeitszeit angerechnet.« Sie musste wieder daran denken, welch ein Durcheinander geherrscht hatte. Die einen sagten voraus, dass die Bergungsarbeiten in einem halben Jahr abgeschlossen sein würden, die anderen sprachen davon, dass mindestens die Hälfte aller Bestände ohnehin unwiederbringlich zerstört sei. »Nachdem sich die Bergung immer länger hinzieht, wollte ich unbedingt noch einmal wiederkommen. Ich wollte die Chance nutzen, in dieser ganz anderen Phase wieder einen kleinen Anteil an den Rettungsmaßnahmen zu haben. Also habe ich Urlaub genommen.«
»Okay«, setzte er zwischen zwei Bissen an, »für eine Restauratorin ist das Ganze vermutlich eine einmalige Sache. Stellt sich trotzdem die Frage, ob sich das alles lohnt. Die Kosten sind doch irre! Das ist ja wohl nicht von der Hand zu weisen.«
»Nein, die Frage stellt sich nicht«, widersprach sie. »In dem Archiv waren rund dreißig Regalkilometer Materialien gelagert. Kannst du dir das vorstellen? Über tausend Jahre Kölner, aber auch rheinischer Geschichte waren dort versammelt. Und das ist längst nicht alles. Auch für die europäische Geschichte waren einige Dokumente von unschätzbarem Wert. Man muss einfach alles tun, um so viel wie möglich davon zu retten.«
»Soweit ich weiß, wurde doch schon der größte Teil gefunden, bevor wir angefordert wurden.«
»Rund neunzig Prozent sind geborgen, das stimmt. Fünf Prozent müssen wohl als endgültig verloren betrachtet werden. Bleiben aber immerhin noch fünf Prozent, für die man euch gerufen hat.«
»He, mir soll’s recht sein. Ich mache den Job gerne und nehme auch gerne das Geld dafür.« Er lachte und fuhr sich mit einer Hand durch das strubbelige hellbraune Haar. »Wenn ich allerdings höre, dass allein zehn Millionen für das unterirdische Bergungsbauwerk auf den Tisch geblättert wurden! Ganz ehrlich, da muss man schon mal Vergleiche mit Kosten für Brunnen in Afrika anstellen dürfen.«
»Zuerst habe ich mich auch gefragt, warum man nicht einfach das Wasser abpumpt. Das wäre bestimmt günstiger. Nur geht das nicht wegen des Wassers im U-Bahn-Tunnel direkt nebenan. Würden die die Grube abpumpen, wäre der Druck auf die Wand zwischen Krater und Tunnel zu groß, die Wand könnte einstürzen. Also seid ihr unverzichtbar.«
»Ich weiß.« Er grinste. »Das mit dem Druck, meine ich. Selbst mit Wasser ist die Geschichte mächtig instabil. Die Wand wird ständig beobachtet. Bewegt sie sich mehr als zwei Millimeter, sind wir raus aus der Nummer. Dann ist es vorbei mit der Bergung.«
»Das wäre furchtbar.«
»Ach was, ich würde auf diese restlichen fünf Prozent pfeifen. Kosten und Risiko stehen doch in keinem Verhältnis zu lächerlichen fünf Prozent.«
»Das Problem ist nur, dass wir keine Ahnung haben, woraus diese geschätzten fünf Prozent bestehen. Vergiss nicht, dass momentan alle Werte nur geschätzt sind. Es gibt schließlich noch keine vollständigen Aufzeichnungen über die gesicherten Archivalien.« Sie hatte den Faden verloren, war aber sofort wieder bei der Sache. »Ja, von welchen fünf Prozent reden wir also? Sind das nur Gewerbesteuerakten von vor zig Jahren? Oder sind darunter Schätze wie etwa das Tagebuch eines Ratsherrn aus dem 16 . Jahrhundert?«
»Toll, für mein Tagebuch würde kein Mensch zehn Millionen hinblättern.«
»Du schreibst Tagebuch?«, fragte sie überrascht.
»Nö, aber wenn ich’s täte, würde es auch keinen
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