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Die unsichtbare Pyramide

Titel: Die unsichtbare Pyramide Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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    1
    San Francisco im Schnee 
    Erde
     
     
     
    Eine solche Kälte hatte es in La Rábida seit Menschengedenken nicht gegeben. Während Pedro benommen durch den matschigen Neuschnee stolperte, klapperten seine Zähne wie sonst nur die Perlen des Rosenkranzes, den er als Gebetshilfe zu benutzen pflegte. Der finstere Park um das Kloster wollte kein Ende nehmen. Jedenfalls kam es dem Mönch so vor. Seine Gedanken klebten wie festgefroren an den dramatischen Ereignissen der letzten Stunden. Den Blick hatte er starr auf den Pfad gerichtet, den er unter der weißen Decke bestenfalls erahnen konnte. Deshalb bemerkte er auch nicht das blaue Glühen, das die Baumkronen ein Stück voraus in dunkle Scherenschnitte verwandelte. Nicht ahnend, was ihn dort erwartete, bewegte er sich direkt darauf zu. Pedro war zu sehr damit beschäftigt, einen klaren Kopf zu bekommen.
    Je mehr er zitterte, desto schwerer fiel ihm dies. Anstatt sich auf das Wesentliche zu konzentrieren, gab er sich absurden Überlegungen hin. Er stellte sich vor, ein Benediktiner zu sein – nur für diese eine Nacht! Dann hätte er wenigstens einen warmen Mantel. Im Gegensatz zum heiligen Benedikt hatte Franz von Assisi dem »Orden der Minderen Brüder« ja unbedingt Armut auferlegen müssen – zitternde Glieder inbegriffen. Der Vorsteher des Franziskanerklosters zog seinen braunen Umhang enger um den hageren Leib. »Warst wieder einmal strenger mit dir, als die Ordensregeln es verlangen«, haderte er mit sich selbst. Pedros Mund entwichen kleine Wölkchen, die fahl im Mondlicht schimmerten. »Ein leuchtendes Vorbild willst du den jungen Novizen sein; sie sollen zu dir aufschauen. Ha, du alter Narr! Wenn du erfroren bist, werden sie zu dir herabsehen – ins Grab. ›Dreißig Jahre Armutsgelübde‹, werden sie bewundernd murmeln und dann hinter vorgehaltener Hand flüstern: Anscheinend ist ihm während seines Juniorats nicht in den Sinn gekommen, dass es in Südspanien jemals Frost geben könnte. Wie heißt es doch so schön? Errare humanum est – ›Irren ist menschlich‹.« Er kicherte unvermittelt und schüttelte den Kopf. »Hat ja auch niemand ahnen können: Schnee in Andalusien. Und das an einem 20. November!«
    Endlich hatte Pedro die äußeren Gartenanlagen des Klosters erreicht. Als er in den Hauptweg einbog, fiel ein blaues Licht auf seine durchweichten Schuhe. Der Mönch verharrte mitten im Schritt. Höchstens zwanzig Meter von ihm entfernt lag etwas im Schnee. Es strahlte, wie er noch nie ein Ding hatte strahlen sehen. Pedro bekreuzigte sich. Was war das? Er lauschte, aber was immer er zu hören hoffte – das verräterische Brummen eines Transformators vielleicht oder ein Zischen, wie es beim Verbrennen eines bengalischen Feuers entsteht –, es war nicht da. Völlige Stille lag über der schneebedeckten Wiese.
    Pedro fasste sich ein Herz und lief vorsichtig auf das Gleißen zu. Dabei fragte er sich, ob das wieder eine dieser Überraschungen des Provinzialen war? Für die »Modernisierungsmaßnahmen« seines Oberen hatte Pedro nicht viel übrig und ein Strom fressender Hochleistungsstrahler zur Illuminierung des Klosters wäre das Letzte…
    Der Mönch zuckte zusammen. Das Strahlen war plötzlich in sich zusammengefallen. Schnell lief er auf das rasch schwächer werdende blaue Licht zu. Unwillkürlich wanderte sein Blick zum Himmel empor, als erwarte er dort einen verfärbten Mond zu sehen. Die Wolken waren in den letzten Minuten zwar immer mehr aufgerissen, aber die fast runde Scheibe sah aus wie immer. Pedro schüttelte den Kopf. Nein, nicht wie immer: Vor zwei Nächten erst hatte es eine totale Mondfinsternis gegeben und die Silberscheibe sich blutrot verfärbt. In alter Zeit pflegten die Menschen solche Himmelsphänomene als Zeichen der Götter zu deuten. Tatsächlich war der zurückliegende Tag vom Tod dreier Menschen überschattet worden, die sein, Pedros, Leben maßgeblich beeinflusst hatten: Zuerst war der Caudillo gestorben, der Spanien fast fünfunddreißig Jahre lang mit fester – nicht wenige behaupteten, mit zu fester – Hand regiert hatte, und dann mussten auch noch… Der Mönch biss sich auf die Unterlippe.
    Der Schmerz tat gut! Er vertrieb das innere Brennen und die quälenden Schuldgefühle. Pedro wandte seine Aufmerksamkeit wieder der versiegenden Lichtquelle zu. Sogleich wurden seine Schritte langsamer, bis er schließlich ganz stehen blieb.
    »Nein!«, hauchte er bestürzt und bekreuzigte sich ein zweites Mal. Alle

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