Die Unzertrennlichen
unterbrochen von einer hohen Pappel, einem Kirchturm, einem roten Hausdach. Die letzte ging in den Himmel über. Unter mir Weinberge, Obstgärten, Wiesen, kleine Wälder, Winzerhöfe. Ein Zorn stieg in mir auf, weil die Umstände, die Menschen mir das Leben in dieser sanften südlichen Landschaft so unerträglich gemacht hatten, dass ich keine andere Wahl gehabt hatte, als wegzugehen. Weil ich mir meine Heimat hatte stehlen lassen.
Ich drehte mich um und betrat die Kapelle, in der sich niemand befand außer meinem toten Vater in seinem hellen Sarg. Kränze und Blumenbuketts umrahmten ihn, Lilien, Gladiolen, Nelken, Gerbera, Callas. Und Rosen, Rosen. Ein Geruch, gemischt aus Blüten, Buchsbaum, Nadelbäumen und Weihrauch. Schwarze Bänder mit Golddruck. Geliebt und unvergessen. In aufrichtiger Anteilnahme. Wir tragen dich im Herzen. Kein Wort war wahr. Lebe wohl, Caspar!
Geboren am sechsten Jänner 1949, benannt nach einem der Heiligen Drei Könige. Hierzulande wurde nicht lange überlegt, man gab dem Neugeborenen den Namen des Tagesheiligen. Kein Heiliger, kein König, mein Vater. Er hätte sich den Namen nicht ausgesucht. Wenn er die Wahl gehabt hätte, dann hätte er sich David Clayton Thomas Fux genannt. Oder Frank Z. Fux. Oder Jimi Fux.
Plötzlich ein Satz in meinem Kopf: Das Dorf beansprucht seine Toten.
Ich trat vor den Sarg hin. Man hatte ihn in einen schwarzen Anzug gesteckt, ähnlich meinem. Er wirkte fremd darin, ich hatte ihn immer nur in Jeans, T-Shirts, Parkas und Lederjacken gesehen. Seine Hände lagen verschränkt über dem Bauch, ein Rosenkranz war um sie geschlungen, sie sahen gefesselt aus. Aus der Öffnung zwischen dem Daumen der rechten Hand und dem Zeigefinger der linken ragte ein Kreuz. Das war zweifellos das Werk meiner Großmutter, der katholischen Hexe. Er hatte jede Art von Religion abgelehnt, auch ihre äußeren Symbole. Seine Fingernägel waren eingedellt und weiß verfärbt, die Nagelmonde rot, Anzeichen für Alkoholismus. Die fleckig geröteten Handinnenflächen sah man so nicht. Tremor hatte er auch keinen mehr.
Ich schaute ihn an. Ganz friedlich. Ein friedlicher toter Alkoholiker. Lidsäcke, Spinnennaevi, punkt- und fleckenförmige Hautblutungen, Gewebeschwund, verhornte Epidermis. Der Teint war grau und teigig. Immerhin war die Gesichtsrötung verschwunden.
Er hatte nicht hierher gepasst, in diese Welt gewiefter Bauern, ebenso wenig, wie ich hierher passte.
Jemand sagte etwas, das ich nicht verstand, und ich wandte den Kopf. Ich hatte nicht bemerkt, dass ich nicht mehr allein in der Kapelle war. Ein junger Mann mit einem schweißnassen runden Gesicht stand neben mir. Er riss den Mund weit auf und lachte mich an. Ich konnte ein paar Amalgamfüllungen und den rosa Gaumen mit dem Zäpfchen sehen. Das Haar klebte an seinem großen Schädel, der Seitenscheitel war schnurgerade gezogen. Er trug die Landestracht, einen grauen Lodenanzug mit grünen Aufschlägen am Rock und grünen Streifen an den Hosennähten, darunter ein violettes T-Shirt mit der Abbildung eines grellroten umgekehrten Kreuzes, und hatte abgetragene braune Arbeitsschuhe an. Außen an der linken Augenbraue glitzerten in einer Reihe vier Piercings. Angestrengt wiederholte er, was er gesagt hatte. In der Mitte seiner Stirn trat eine senkrechte, kerzengerade Ader hervor. Offenbar bereitete ihm das Sprechen Mühe.
»Mein Beileid«, verstand ich schließlich. Und: »Kennst du mich nicht mehr?«
Ich hatte keine Ahnung, wer er war.
In der Kirche war es angenehm kühl. Ich saß neben meinen Großeltern, die aussahen wie das blühende Leben, in der vordersten Bank. Der Großvater hatte sich zur Feier des Tages das Allgemeine Sturmabzeichen an die linke Brustseite gesteckt, ein silberfarbenes Ehrenzeichen in Form eines ovalen Eichenkranzes. Der Pfarrer stand auf der Kanzel, ein großer, hagerer, schlecht rasierter Mensch mit gekrümmtem Rücken, gelber Gesichtsfarbe und bekümmerter Miene. Vielleicht Gallensteine.
»Seht, ich enthülle euch ein Geheimnis«, sagte er mit slawischem Akzent. Ein Pole. Er war neu in der Pfarre, ich hatte am Vortag seine Bekanntschaft gemacht. Hochwürden Wojcik. Sein Tonfall, dieser für Geistliche so typische Singsang, dessen Erlernen wahrscheinlich Teil ihrer Ausbildung war, machte mich schläfrig.
»Reiß dich zusammen!«, zischte mir meine Großmutter ins Ohr. Ich fuhr hoch.
»… wir werden alle verwandelt werden«, sagte der Pfarrer gerade, »plötzlich, in einem Augenblick, beim
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