Der Club der Teufelinnen
1
Annie
Manhattan, diese Glitzertrauminsel, schlief noch in der Dunkelheit vor Morgengrauen. Auf dieser Insel wurden Träume wahr, wurden schal und wieder verworfen, und manchmal wurden sie auch zu Alpträumen. Und gerade jetzt, in einer Mainacht Ende der achtziger Jahre, war es auch eine Insel, auf der viele Frauen allein in ihrem Bett lagen.
Das Schlafzimmer von Annie MacDuggan Paradise war von jener Schlichtheit, zu der vor allem ein erhebliches Maß an Geschmack und Geld gehört. Der Fußboden glänzte ganz altmodisch in einem dunklen Kastanienbraun, was den seidigen Glanz des chinesischen Teppichs besonders gut zur Geltung brachte. Abgesehen von dessen Violett-, Creme- und Saphirtönen und von dem satten Grün der von Annie liebevoll gepflegten Bonsaibäumchen, dominierte diesen Raum das ruhige Austernweiß der stoffbespannten Wände, rohseidenen Vorhänge und Damastbettwäsche. Alles in diesem Zimmer war makellos. Selbst das Feuer in dem hellen Marmorkamin war säuberlich zu einem Häufchen weißer Asche herabgebrannt. Einzig das Bett war zerwühlt, die Überdecke verschoben, Kissen lagen zwischen den Bettüchern und über den Fußboden verstreut.
Das ganze Zimmer zeugte von exquisitem Geschmack und strömte Ruhe aus. Nur ein Stapel Bücher türmte sich unordentlich auf der Marmorplatte des Nachttischs: Buddhismus und Ökologie: Ein Weg zur Rettung unseres Planeten. Die verletzte Frau. Wenn Frauen zu sehr lieben. Die Symbolik Jungs und das kollektive Unbewußte. Tanz der Wut und Die Frauen Japans. Gleich neben diesem staubbedeckten Stapel stand eine zierliche Kristallvase mit drei zarten Rispen der Cymbidium-Orchidee. Das Telefon neben der Vase klingelte.
Ein schlanker, gebräunter Arm kam unter der Decke hervor und angelte nach dem Hörer. Auch die Hand war schlank und gebräunt, bei genauerem Hinsehen waren jedoch die verräterischen Linien eines gewissen Alters zu erkennen. Sonst glich sie der Hand eines Kindes, mit kleinen Fingern und kurzen, unlackierten Fingernägeln. Die Hand ergriff den Hörer und zog ihn unter die zerwühlte Bettdecke.
»Hallo.« Es kam nur ein Krächzen. Annie räusperte sich. »Hallo.«
»Anne? Hier ist Gil. Gil Griffin.« Es dauerte einen Moment, bis Annie ganz aus der Tiefe ihres Traumes emporgetaucht war, aus dem sie nur ungern aufwachen mochte. Gil Griffin also.
»Hallo, Gil.« Dies konnte kein Höflichkeitsanruf sein, überlegte sie; wann hatte sie das letzte Mal mit Gil Griffin gesprochen? Bestimmt war das schon Jahre her, vor seiner Scheidung von Cynthia. Und ganz sicher hatten sie noch nie morgens um halb sechs – wie sie mit einem Blick auf ihre Armbanduhr feststellte – miteinander telefoniert. Da stimmte etwas nicht.
»Ich brauche deine Hilfe, Anne. Wegen Cynthia. Sie ist tot.«
Annies Verstand sträubte sich. Die Worte und die Art, wie sie gesprochen wurden, paßten einfach nicht zusammen. Da war nicht die geringste Gefühlsregung. Wie bei einem Wetterbericht. Von Kanada rückt eine Kaltfront nach Süden vor. Ihr Verstand begann zu funktionieren.
»Oh, mein Gott! Was ist passiert?« Das war nicht möglich. Cynthia war doch nicht krank. Zumindest hatte Annie nichts davon gewußt oder irgend etwas gemerkt. Cynthia war ja bloß ein Jahr älter als sie selbst. Hatte sie einen Unfall gehabt? Oder zuviel getrunken? Nein, die Trinkerin war ihre Freundin Elise.
»Es war Selbstmord«, antwortete Gil, und einen Augenblick lang brachte Annie überhaupt kein Wort heraus. Währenddessen berichtete er ein paar gräßliche Einzelheiten. Badewanne. Handgelenke. Schon seit fast zwei Tagen tot. »Ich möchte lieber nicht darüber reden.« Seine Stimme klang unbeteiligt. Strichweise Regenschauer im Mittelwesten.
Und dann: »Ich brauche deine Hilfe.«
»Natürlich. Was kann ich für dich tun?« Die automatische Reaktion des braven kleinen Mädchens. Mein Gott. Cynthia ist tot, tot und ich mache auf höflich. Annie schauderte unter den Decken. »Wie kann ich helfen?«
»Die Beerdigung ist morgen früh.«
»Morgen früh? So schnell? Aber man braucht doch Zeit …«
»Könntest du ein paar von ihren Freunden anrufen und es ihnen sagen?« unterbrach er sie. »Ich habe mit ihrem Kreis schon seit einiger Zeit keinen Kontakt mehr.«
»Gewiß doch, ich helfe gerne, aber es ist kurz vor Memorial Day. Die Leute werden früh in die Feiertage fahren wollen. Und …« Sie dachte an ihre eigene Fahrt nach Boston, zur Feier des Studienabschlusses ihres Sohnes. Und Sylvie. Das Packen.
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