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Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Titel: Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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den wahren Schuldigen, den er augenblicklich zu züchtigen gedachte. Dummerweise holte er für den ersten Schlag zu weit aus, und der Rohrstock traf die kleine Emily mitten ins Gesicht. Mr. Meeks machte seinem Schrecken über das viele Blut im Gesicht des kleinen Mädchens mit wütendem erschrockenen Geschrei Luft und hieb umso fester auf den armen Paul ein, während sich Mrs. Philbrick um das weinende Mädchen kümmerte, indem sie ein Handtuch auf die Wunde drückte, um die Blutung zu stillen, und tröstende Worte flüsterte.
    Das linke Auge jedenfalls konnte sie damit nicht retten.
    »Es war wie Feuer im Gesicht«, sollte Emily später ihrer Freundin gestehen, die zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht in Rotherhithe lebte. Von Engeln hatte sie eines Nachts geträumt, und in ihrem Traum hatten die Gesichter der Engel gebrannt. Als sie das Auge verloren hatte, da war ihr gewesen, als hielten Engel nach ihr Ausschau. Irgendwie, ganz unbestimmt.
    »Manchmal«, meinte Emily, »träumt man eben solche Sachen.«
    Als die Wunde verheilt war, bekam Emily ein Glasauge, das sich kalt und glatt wie ein schöner Stein anfühlte in ihrer Hand. Zum Trost schenkte Mrs. Philbrick ihr am Tag darauf einen alten Stoffbären, der einmal ihrer Nichte gehört hatte. Dem Bären, dessen hellbraunes Fell nur noch matt glänzte und ganz filzig war, fehlte das rechte Knopfauge.
    »Irgendwie«, meinte Mrs. Philbrick, »gehört ihr beiden zusammen.«
    Irgendwie hatte sie Recht.
    Von da an schlief Emily nie wieder alleine.
    Am Hinterteil des Stoffbären baumelte ein Zettel mit einer kaum mehr leserlichen Aufschrift: »Made by D.B. Laing, Singapore«. Sie hielt den Stoffbären fest in ihren Armen und ertastete jedes Mal beim Einschlafen die leere Augenhöhle des Tieres. Er wurde so etwas wie der Bruder, den sie nie gehabt hatte. Und sie wollte den gleichen Namen haben wie er.
    So geschah es, dass Nummer Neun im Alter von sechs Jahren nicht nur ihr Glasauge bekam, sondern auch den ersten richtigen Namen.
    Emily Laing.
    Etliche der Waisenkinder waren durchaus von Interesse für die Belange von Madame Snowhitepink. Nicht so die kleine Emily. Die Leute verabscheuten die einäugige Missgeburt. Wenn die Kinder von den Ausflügen mit Madame Snowhitepink zurückkehrten, war Emily meist froh darüber, ein gläsernes Auge zu haben, das sie hässlich machte. Keines der Kinder sprach jemals über das, was im Beisein Madame Snowhitepinks passiert war.
    Emily blieb ein derartiges Schicksal erspart.
    Sie wurde vom Reverend dazu abgestellt, der Köchin zur Hand zu gehen.
    Mrs. Philbrick war eine gutmütige große Frau, deren Kittelschürzen vor Stärke knarzten, wenn sie sich bewegte. Dennoch duldete sie, wie jedermann im Waisenhaus, weder Schlampigkeit noch Unpünktlichkeit. Die Küche befand sich im Keller des großen Hauses, und dort unten führte sie streng ihr Regiment. Alles hatte dort unten seinen Platz. Emily, die mittlerweile die einzige Küchenhilfe war, musste den Fußboden nach jeder Mahlzeit kehren und schrubben. Paul war nach einem der Ausflüge mit Madame Snowhitepink nicht mehr zurückgekehrt; er sei, so sagte man den Kindern, adoptiert worden.
    Der Arbeitstag begann für das Mädchen um fünf Uhr, während die anderen Kinder noch schliefen. Ein klappriger Lieferwagen aus Smithfields brachte Säcke voller harter Brote (meist solche vom Vortag), Kartoffeln und Gemüse (die gesammelten Reste vom Markt in Spitalfields). All das musste von Emily binnen kürzester Zeit in den Keller geschafft werden. Mrs. Philbrick erschien dann gegen sechs Uhr und wollte alles an seinem Platz sehen.
    Die tägliche Routine ließ keinerlei Ausnahmen zu. Vorbereiten des Frühstücks, danach Tischabräumen mit anschließendem Abwasch und Küchenbodenputzen. War dies getan, begannen die Vorbereitungen für das Mittagessen. Die anderen Kinder strömten gegen ein Uhr mittags von ihren unterschiedlichen Arbeiten ins Waisenhaus zurück, lieferten den Verdienst des Vormittags bei Mr. Dombey junior ab und durften sich zur Belohnung den Bauch mit den zubereiteten und teilweise vergammelten Speisen füllen.
    Am Mittag schuftete Emily erneut in der Küche, und wenn sie ihre Arbeit beendet hatte, was meist gegen vier Uhr der Fall war, begannen die Vorbereitungen für das Abendessen. In den spärlichen Pausen dazwischen kauerte Emily auf ihrer Pritsche im Schlafsaal und las in den staubigen Büchern, die einmal im Monat von einem alten Mann, der die zerfledderten Werke wohl als

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